Der Ökonom Chris Blattman: „Eine demokratische Ukraine ist eine Bedrohung für Putin, wenn er glaubt, dass sie ein Vorbild für russische Dissidenten werden könnte.“ dpa BEITRAG TEILEN Bis die ersten Raketen auf Kiew fielen, war es für viele Beobachter unvorstellbar, dass mitten in Europa ein Land ein anderes angreift. Auch Russland hatte vom alten Status quo schließlich über Jahrzehnte profitiert. „Wandel durch Handel“ sollte allen Seiten Frieden und Wohlstand bringen. Wie konnte es also sein, dass dieses Versprechen plötzlich nicht mehr galt? Wer das verstehen will, der muss Chris
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Chris Blattman considers the following as important: Foreign Press, Germany, Why We Fight
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Bis die ersten Raketen auf Kiew fielen, war es für viele Beobachter unvorstellbar, dass mitten in Europa ein Land ein anderes angreift. Auch Russland hatte vom alten Status quo schließlich über Jahrzehnte profitiert. „Wandel durch Handel“ sollte allen Seiten Frieden und Wohlstand bringen. Wie konnte es also sein, dass dieses Versprechen plötzlich nicht mehr galt?
Wer das verstehen will, der muss Chris Blattman fragen. Blattman hat für einen Ökonomen ungewöhnlich viele gewaltsame Konflikte aus nächster Nähe erlebt. Schon als Doktorand fand er sich auf den staubigen Straßen eines Kriegsgebietes in Afrika wieder. „Gehen Sie nicht“, hatten seine Prüfer zu ihm gesagt, viel zu gefährlich sei es zwischen Warlords und Landminen im Norden Ugandas. Blattman ging trotzdem. Als Entwicklungsökonom interessierte ihn, warum manche Menschen arm sind und arm bleiben und andere nicht. In Afrika erkannte er, wie Gewalt jeden Fortschritt im Keim ersticken kann. Aus dem Wirtschaftswissenschaftler wurde ein Friedensforscher. Heute ist Blattman Professor an der Universität von Chicago. Die zentrale Frage seiner Forschung lautet: Warum führen manche Konflikte zu Blutvergießen und andere nicht?
Gleich zu Beginn seines neuen Buchs „Why We Fight“ („Warum wir kämpfen“) macht Blattman klar, dass es ein Trugschluss sei, dass sich die Menschen in ihrer Geschichte andauernd bekriegt hätten. Der Urzustand des Menschen sei nicht einer des ewigen Krieges. Im Gegenteil: „Krieg ist die Ausnahme, Frieden die Regel“, schreibt er. Das liege aber nicht daran, dass die meisten Menschen sich so gern mögen. Krieg sei einfach zu teuer. Und zwar für beide Seiten. Fast immer ist es für alle besser, die Waffen ruhen zu lassen und einen Kompromiss zu finden. Die Ukraine und Russland dürften beide aus dem aktuellen Krieg ärmer hervorgehen. Egal, wer am Ende gewinnt.
In seiner Analyse der wahren Kriegsgründe warnt Blattman vor einfachen Erklärungen. Kriege gibt es nur, wenn Männer an der Macht sind? Die Geschichte zeige, dass das nicht stimmt. Oft mussten sich gerade Königinnen militärisch zur Wehr setzen, weil ihre Feinde sie unterschätzten. Länder mit mehr Gleichberechtigung haben außerdem oft mehr demokratische Kontrollen. Ressourcenknappheit führt unweigerlich zu Krieg? Auch da ist Blattman skeptisch. Nur weil der Kuchen, den es zu verteilen gibt, schrumpft, ändere das noch nicht die Anreize für Krieg oder Frieden. Wenn die Kosten des Krieges hoch blieben, werde er vielleicht sogar unattraktiver: „Jedes Mal, wenn jemand sagt, X verursacht Kriege, müssen wir uns instinktiv fragen: Wie verändert das die Anreize?“
Fünf Faktoren macht Blattman aus, die eine kriegerische Auseinandersetzung wahrscheinlicher machen. Sie treffen auch auf Putins Angriff auf die Ukraine zu.
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Der erste sind unkontrollierte Interessen: Wenn ein undemokratischer Herrscher nicht selbst die Kosten des Krieges tragen muss, vielleicht sogar vom Krieg profitiert, dann geht die Rechnung nicht mehr auf. Komplett von den Verlusten isoliert ist zwar auch Putin nicht. Doch der Verhandlungsspielraum wird kleiner, die möglichen Kompromisslösungen beschränkt. Das spielt auch in Demokratien eine Rolle. Als es in den Vereinigten Staaten noch die Wehrpflicht gab, stimmten Politiker, deren Söhne im wehrpflichtigen Alter waren, um ein Sechstel seltener für Kriegseinsätze als diejenigen mit Töchtern im gleichen Alter.
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Der zweite Grund sind immaterielle Anreize. Im Zweiten Weltkrieg riskierten die Piloten der deutschen Luftwaffe regelmäßig ihr Leben. Drei Viertel von ihnen wurden im Einsatz getötet, verwundet oder gingen verschollen. Nüchtern betrachtet, war es kaum in ihrem materiellen Interesse, den Krieg fortzuführen. Doch der nationalsozialistischen Führung gelang es, die Soldaten bei ihrer Ehre zu packen. Wurde ein Flieger-Ass aus ihrer Einheit in der Presse geehrt, motivierte das die Piloten zusätzlich. In den Wochen danach schossen sie mehr feindliche Flugzeuge ab – und bezahlten dafür öfter selbst mit ihrem Leben. Ideologische Prägung kann auch einen Friedensschluss weiter erschweren. Wenn weite Teile der Bevölkerung in Russland Putin glauben, dass es in der Ukraine gegen „Nazis“ gehe. Wenn ein Konflikt religiös aufgeladen wird. Aber auch zum Beispiel, wenn eine oder beide Seiten glauben, für unveräußerliche Menschenrechte einzutreten.
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Der dritte Faktor, der Krieg wahrscheinlicher macht, ist Unsicherheit. Eine Kompromisslösung ist dann möglich, wenn beide Seiten Klarheit über die Stärke des anderen haben. Die unterlegene Seite kann dann nachgeben und dem Stärkeren Zugeständnisse machen, ohne dass ein Schuss fallen muss. Gefährlich wird es, wenn unklar ist, wie die Stärkeverhältnisse sind – und eine Seite die andere unterschätzt.
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Das vierte Problem ist fehlende Verbindlichkeit. Sie ist ein häufiger Grund für Präventivkriege. Zwei Konfliktparteien sind sich zwar theoretisch einig über einen Kompromiss. Eine Seite befürchtet aber, dass die andere Seite früher oder später stärker wird und den Status quo infrage stellt. Wenn Rebellen zum Beispiel einwilligen, die Waffen niederzulegen, müssen sie fürchten, dass die Regierung sie anschließend unerbittlich verfolgt. Das gibt ihnen einen Anreiz weiterzukämpfen. Im Jahr 1914 fürchteten die deutschen Generäle den Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht. Sie sahen die Chance gekommen, einen solchen Aufstieg zu verhindern, der aus ihrer Sicht langfristig Deutschlands Status in Europa hätte bedrohen können – und sprachen sich für den Krieg aus.
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Der fünfte Kriegsgrund ist schließlich die falsche Wahrnehmung. Hier kommen Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomik ins Spiel. Menschen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Sie schätzen aber auch andere falsch ein: Sie verkennen, dass andere Menschen vergangene Ereignisse anders bewerten als sie. Und sie tendieren dazu, die Motive der anderen falsch einzuschätzen. Hat der Soldat, der den Demonstranten erschoss, wirklich aus Boshaftigkeit gehandelt, oder war es nur ein tragischer Unfall? Wenn wir uns nicht in das Gegenüber hineinversetzen können, können solche Ereignisse der Zündstoff für viel größere Konflikte sein.
Im Ukrainekrieg sieht Blattman seine Thesen bestätigt, sagt er – auch wenn es aktuell komisch sei, zu argumentieren, dass Krieg die Ausnahme ist. Man müsse aber bedenken, wie viele Kriege in den vergangenen zwei Jahrzehnten Putin eben nicht angezettelt habe: „Er ist nicht in Belarus einmarschiert. Er hat Kasachstan nicht angegriffen.“ Putin habe vielen ehemaligen Sowjetrepubliken das gleiche Angebot einer Halbsouveränität gemacht. Dass die Ukraine sich darauf nicht eingelassen habe, sei die Ausnahme. Dass der Krieg nach wie vor andauere, liege auch an der Ukraine. „Das meine ich nicht als Kritik, sondern als Kompliment“, sagt Blattman. Die Ukraine kämpfe für ein immaterielles Gut, ihre Freiheit, und habe deshalb das Angebot einer erzwungenen Neutralität abgewiesen. Das erinnere ihn an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
Die fünf Kriegsgründe ließen sich allesamt in Russland feststellen, sagt Blattman. Putin ist keiner demokratischen Kontrolle unterworfen. Die russische Regierung hat ihre Bevölkerung mit Erzählungen von Ruhm und Ehre und einer Rückkehr zum verlorenen Großmachtstatus motiviert. Auch Unsicherheit gab es zuhauf, weil Putin die Stärke der Ukraine genauso unterschätzte wie den Willen des Westens, das Land zu unterstützen. Ein Verbindlichkeitsproblem gab es ebenfalls: „Eine demokratische Ukraine ist eine Bedrohung für Putin, wenn er glaubt, dass sie ein Vorbild für russische Dissidenten werden könnte.“ Und schließlich war Russland sich auch seiner eigenen Stärke zu sicher.
Ein baldiges Ende der Kämpfe in der Ukraine hält Blattman für möglich: „Die meisten Kriege dauern nicht so lange. Wir neigen dazu, den langen Kriegen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den kurzen.“ Es gebe einen sehr starken Druck, zumindest ein Patt zu erreichen – und erste Anzeichen, dass der Krieg sich nicht ausweite: „Putin hat am 9. Mai weder seine Rhetorik eskaliert noch das Land mobilisiert.“ Und noch eine Einsicht ergibt sich aus Blattmans Argument von den Kosten des Krieges: Waffenlieferungen des Westens würden nicht zu mehr Blutvergießen führen, wie zuletzt manche deutschen Kommentatoren warnten. Im Gegenteil: Je entschlossener der Westen sich hinter die Ukraine stelle, desto mehr erhöhe er die Kosten eines Zermürbungskrieges für Russland „und den Anreiz, eine Einigung zu finden“.
Christopher Blattman: Why We Fight: The Roots of War and the Paths to Peace. Penguin, 388 Seiten, 19,50 Euro