Mythos Der Kapitalismus ist entzaubert und bringt uns das größte Faschismusproblem seit den Dreißigern Was im Herbst 2008 an der Wall Street geschah, hatten die allermeisten Menschen bis dahin für unmöglich gehalten, schließlich hatte man ihnen jahrelang weisgemacht, dass etwas Derartiges schlichtweg nicht passieren könnte. Es war, als ob man dabei zuguckt, wie die Sonne, kurz nachdem sie am Horizont aufgeht, komplett aus ihrer Bahn trudelt und abstürzt. Die Menschheit sah fassungslos zu. Wann und wie stehst DU gegen die nationalistische Internationale auf? Die alten Griechen hatten einen Begriff für Augenblicke wie diesen: aporía – ein Zustand vollständiger Verblüffung und Ratlosigkeit, ein
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Yanis Varoufakis considers the following as important: Der Freitag, English, Essays, German, history, Middle East, The Global Minotaur: A theory of the Global Crisis
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Mythos Der Kapitalismus ist entzaubert und bringt uns das größte Faschismusproblem seit den Dreißigern
Die alten Griechen hatten einen Begriff für Augenblicke wie diesen: aporía – ein Zustand vollständiger Verblüffung und Ratlosigkeit, ein dringendes Bedürfnis nach einem neuen Erklärungsmodell für die Welt, in der wir leben. Der Crash von 2008 war ein solcher Moment. Plötzlich funktionierte die Welt nicht mehr nach den Regeln, die ein paar Wochen zuvor noch als selbstverständlich durchgegangen waren.
Es dauerte nicht lange, bis die Auswirkungen überall zu spüren waren. Gewissheiten, die auf der jahrzehntealten Denke des Establishments basierten, lösten sich in Luft auf, zusammen mit Vermögenswerten in Höhe von rund 40 Billionen US-Dollar weltweit und 14 Billionen US-Dollar an Vermögen privater Haushalte allein in den USA. Dort gingen 700.000 Arbeitsplätze pro Monat verloren, unzählige Hauskäufer mussten ihr Heim wieder aufgeben, weil sie ihren Kredit nicht bezahlen konnten; die Liste ist so lang, wie die Zahlen, die sie enthält, unfassbar sind. Sogar McDonald’s – wie krass ist das denn? – bekam von der Bank of America keinen Dispokredit mehr.
Diese kollektive Aporie wurde durch die Reaktion der Regierungen verstärkt, die beharrlich an neoliberaler Wirtschaftspolitik festgehalten hatten, der vielleicht letzten Ideologie des 20. Jahrhunderts: Billionen von Dollar, Euro oder Yen wurden in ein Finanzsystem gepumpt, das einige Monate zuvor noch wie am Schnürchen gelaufen war, fabelhafte Profite abgeworfen hatte und dessen Protagonisten von sich behauptet hatten, den sprichwörtlichen Topf mit Gold am Ende des Globalisierungs-Regenbogens gefunden zu haben. Als dieses Vorgehen sich als nicht ausreichend erwies, begannen unsere Premierminister und Präsidentinnen – Männer und Frauen mit tadellosen anti-etatistischen Referenzen – eine groß angelegte Verstaatlichung von Banken, Versicherungsunternehmen und Autoherstellern, die sogar Lenins Heldentaten von 1917 in den Schatten stellt.
Ein wanderndes Monster
Zehn Jahre später begleitet uns die Krise, die 2008 in der Wall Street begann, noch immer. Sie nimmt an unterschiedlichen Orten verschiedene Gestalten an, tritt in Ländern wie Griechenland als Große Depression, in Staaten wie Deutschland als Geißel von Mittelschicht-Sparern auf, als der historisch größte Verstärker von brutaler Ungleichheit in den USA oder als stete Quelle für geopolitische Spannungen und Handelsauseinandersetzungen in Asien und Osteuropa. Die Krise wandert von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land, erzeugt hier Arbeitslosigkeit, dort Deflation, verursacht die nächste Bankenkrise und vergrößert die weltweiten Handels- und Kapital-Ungleichgewichte.
Europas herrschende Elite hat diese Krise zu einer Reihe von lachhaften Fehlern getrieben und es so geschafft, die moralischen und politischen Grundlagen der Europäischen Union zu zerstören. Auf der anderen Seite des Atlantiks ermöglichte sie Donald Trumps Präsidentschaft. Je mehr unsere Regierenden behaupten, die Krise im Griff zu haben, umso tiefer wird sie. Die Einzigen, die von all diesen andauernden Mutationen der Krise profitieren, sind die reichsten 0,1 Prozent, vor allem die Leute im Finanzsektor, und die nationalistische Internationale, die in Europa, Amerika und darüber hinaus eine neue faschistische, grässlich ausländerfeindliche Ära prägt.
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir am Anfang beginnen – 1944. Als der Krieg sich dem Ende zuneigte, erkannte die New-Deal-Regierung in Washington, D. C., dass es nur einen einzigen Weg gab, wie sich eine Rückkehr der Großen Depression der 1930er verhindern ließ: Amerikas Überschüsse in Europa und Japan zu „recyceln“ und so im Ausland jene Nachfrage zu schaffen, die US-Fabriken am Laufen halten würde, um all die Waschmaschinen, Fernsehgeräte und Passagierflugzeuge zu produzieren, auf die die US-Industrie nach Kriegsende umstellen würde.
Heraus kam das Projekt der Dollarisierung Europas, der Gründung der EU als Kartell der Schwerindustrie, des Aufbaus von Japan, alles innerhalb einer globalen Währungsunion, bekannt als Bretton-Woods-System: ein auf dem Dollar basierendes System fixer Wechselkurse mit fast konstanten Zinsen; langweilige Banken, die strikten Kapitalverkehrskontrollen unterlagen; die Steuerung der Gesamtnachfrage nach den Gütern und Dienstleistungen des globalen Kapitalismus durch die USA.
Diese Anordnung der Weltwirtschaft war spektakulär, sie brachte uns ein goldenes Zeitalter mit niedriger Arbeitslosigkeit, niedriger Inflation, starkem Wachstum und deutlich sinkender Ungleichheit. Doch leider kam das Bretton-Woods-System schon in den späten 1960ern an sein Ende. Warum? Weil die USA keine Überschüsse mehr erwirtschafteten und in ein doppeltes Handels- und Haushaltsdefizit rutschten. Ohne Überschüsse konnten sie das globale System nicht mehr durch deren Recycling stabilisieren. Ohne lange zu zögern, beendeten sie ihr segensreichstes Unterfangen: Am 15. August 1971 verkündete Präsident Richard Nixon den Ausschluss Europas und Japans aus dem Dollar-Raum.
Nixons Entscheidung gründete auf einem erfrischenden Mangel an Angst vor Defiziten, wie er Amerika auszeichnet. Washington war nicht willens, die Defizite durch Sparmaßnahmen auszugleichen, denn das hätte die Fähigkeit der USA beschränkt, in aller Welt als Hegemon aufzutreten. Lieber trat Washington aufs Gas und ließ seine Defizite weiter ansteigen. Die amerikanischen Märkte funktionierten wie ein gigantischer Staubsauger, der gigantische Netto-Exporte aus Deutschland, Japan und später China aufsaugte – und damit die zweite Phase des Nachkriegswachstums – zwischen 1980 und 2008 – einleitete. Wie wurden die wachsenden US-Defizite finanziert? Mittels eines Tsunamis aus dem Geld anderer Leute: Rund 70 Prozent der Profite europäischer, japanischer und chinesischer Netto-Exporteure strömten begeistert an die Wall Street und suchten dort Zuflucht und höheren Profit.
Tatsächlich fiel so in den 1970ern der Startschuss für einen „globalen Überschuss-Recycling-Mechanismus“ (an anderer Stelle habe ich ihn mit einem globalen „Minotaurus“ verglichen): Die USA absorbierten einen großen Anteil der industriellen Warenüberschüsse aus dem Rest der Welt, während die Wall Street das Kapital, das in die USA strömte, auf drei verschiedene Weisen nutzte. Zum einen ermöglichte sie Kredite an US-Verbraucher, deren Gehälter und Löhne als Folge desselben Prozesses stagnierten, der die US-Profitrate hochtrieb und die Wall Street für ausländisches Kapital lukrativer machte als Europa oder Japan. Zweitens wurden Direktinvestitionen in US-Unternehmen gelenkt und drittens der Kauf von US-Staatsanleihen gefördert, was für die Finanzierung der amerikanischen Haushaltsdefizite sorgte.
Unsägliche Einfalt
Aber damit die Wall Street als derartiger Magnet für das Kapital anderer Leute funktionieren, die Überschüsse anderer recyceln und so Amerikas Defizite ausgleichen konnte, musste sie von den strengen Regulierungen der New-Deal- und Bretton-Woods-Ära abgekoppelt werden. Institutionalisierte Gier, Deregulierung im großen Stil, exotische Derivate und so fort waren nur Symptome dieses schönen neuen globalen Recycling-Mechanismus.
Vorhang auf für die Finanzialisierung! Europas Finanzzentren machten mit großem Enthusiasmus mit, und nach 1991 stießen zwei Milliarden Arbeiter aus der früheren Sowjetunion, China und Indien zum globalen Proletariat hinzu, um jenen neuen Output zu produzieren, der die einseitigen Handelsströme weiter verstärkte – voilà, die Globalisierung hatte begonnen!
In ihrem Fahrwasser schuf die EU ihre gemeinsame Währung. Die brauchte sie, weil sie, wie alle Kartelle, die Preise der wichtigsten industriellen Oligopole im europäischen Binnenmarkt stabil halten wollte. Dafür war es notwendig, die Wechselkurse wie während der Bretton-Woods-Ära zu stabilisieren. Nun war aber zwischen 1972 und den frühen 1990ern jeder Versuch, europäische Wechselkurse zu fixieren, kläglich gescheitert. Also beschloss die EU, aufs Ganze zu gehen und eine gemeinsame Währung einzuführen. Das tat sie innerhalb jenes günstigen Umfelds von zeitweise beeindruckender globaler Stabilität, das der „globale Überschuss-Recycling-Mechanismus“ stützte, das aber in Wahrheit mit großen Ungleichgewichten einherging. Leider schuf die EU in ihrer unsäglichen Einfalt den Euro auf Basis eines Paradoxons, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: eine Zentralbank, hinter der keine sie stützende Regierung steht, sowie 19 Regierungen ohne Zentralbank, die sie stützen könnte. Die EZB versorgte also die Banken von 19 Ländern mit einer gemeinsamen Währung, deren Regierungen in einer Krise dieselben Banken retten müssten, ohne eine Zentralbank zu haben, die sie unterstützt!
Unterdessen nutzten die Wall Street, die Londoner City sowie die französischen und deutschen Banken ihre zentrale Position im US-gestützten globalen Recycling-System, um aus den Nettogewinnen, die aus dem Rest der Welt in die USA flossen, kolossale Kartenhäuser aus privatem Kapital zu bauen. Das förderte das Recycling-Modell, da es eine immer schneller steigende Nachfrage in den USA, in Europa und in Asien befeuerte. Und es führte zur Abkopplung der Finanzkapitalströme von den zugrunde liegenden Handelsströmen.
Als die Privatgeld-Kartenhäuser der Wall Street 2008 wie von selbst zusammenfielen, konnte die Wall Street den globalen Recycling-Kreislauf nicht mehr „schließen“. Amerikas Banken konnten die Zwillingsdefizite der USA, das Außenhandels- und das Haushaltsdefizit, nicht länger dafür nutzen, genug Nachfrage innerhalb der USA zu erzeugen und damit die Netto-Exporte des Rests der Welt zu stützen. Zudem hatten die Schockwellen, mangels Stoßdämpfer, der gemeinsamen Währung, dem Euro, ordentlich zugesetzt.
Seit diesem finsteren Moment ist es der Weltwirtschaft – und im Besonderen der europäischen Wirtschaft – nicht gelungen, sich aufzurappeln und zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückzukehren.
Womit wir es seitdem zu tun haben, ist schnell gesagt: Sozialismus für Banker, Austerität für die Massen und der unaufhaltsame Aufstieg der nationalistischen Internationalen.
Die meisten meiner deutschen Freunde können es bis heute nicht verstehen: Wie konnte es passieren, dass die Deutsche Bank und der Rest der deutschen Banken 2008 praktisch pleitegingen? Wie kann eine Branche innerhalb von 24 Stunden vom Jonglieren mit Milliarden in die Insolvenz abstürzen, sodass die Steuerzahler sie retten müssen? Die Antwort ist so einfach wie niederschmetternd.
Nehmen wir die deutschen Banken und Exporteure im Sommer 2007: Deutschlands volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist einen großen Überschuss im Handel mit den USA aus. Genauer gesagt, liegt Deutschlands Export-Einkommen durch den Verkauf von Mercedes-Benz-Autos und ähnlichen Waren an amerikanische Verbraucher im August 2007 bei entspannten fünf Milliarden Dollar. Was die deutsche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aber nicht zeigt, ist das wahre Drama hinter den Kulissen: das, was wirklich vor sich ging.
Zwischen Anfang der 1990er und 2007 hatten Wall-Street-Banker Unmengen toxischer Quasi-Geld-Derivate zusammengeschustert und es geschafft, dass deren Marktpreise stark anstiegen. Die Banker in Frankfurt am Main wiederum waren scharf darauf, diese lukrativen Derivate zu kaufen. Sie taten das mit Dollars, die sie sich dafür ausliehen, und zwar von – der Wall Street.
Im August 2007 dann begann das Horrorjahr der Wall Street, das im September 2008 mit der Lehman-Pleite seinen Höhepunkt erreichte. Wie es unvermeidlich gewesen war, begann der Preis der Derivate zu fallen. Die deutschen Banker traf der Schlag, als ihre in Panik verfallenen New Yorker Kollegen ihre Dollarschulden einzutreiben begannen. Die deutschen Banker brauchten sehr schnell Dollars, aber niemand wollte den Berg an toxischen US-Derivaten, den sie gekauft hatten, haben.
Die Hetze der Elite
Das ist der Grund dafür, dass die deutschen Banken, die auf dem Papier über Gewinne im Überfluss verfügten, von einem Augenblick zum anderen dringend Geld in einer Währung benötigten, die sie nicht besaßen. Hätten sie nicht US-Dollars von Deutschlands Exporteuren leihen können, um ihre Dollar-Obligationen zu erfüllen?
Sicher, nur reichte das bei Weitem nicht aus: Was konnten die fünf Milliarden US-Dollar aus Exporten im August helfen, wo die Außenstände der deutschen Banker bei der Wall Street doch mehr als 1.000 Milliarden US-Dollar betrugen?
Man könnte das, was hier im globalen Maßstab vor sich ging, so zusammenfassen: Einseitigen, in US-Dollar denominierten Finanzströmen, die ursprünglich aufgrund des US-Handelsdefizits gewachsen waren, „gelang“ es, sich von den sie ermöglichenden wirtschaftlichen Werten und Handelsvolumen zu lösen. Die Banker hatten toxische, in US-Dollar notierte Papiere erfunden und diese dann in ihre eigenen Bilanzen geschrieben. Dieses Vorgehen beschleunigten sie derart, dass sie die Schwerkraft fast schon überwunden hatten und ins All hochgeschossen waren – nur um 2008 dann dramatisch abzustürzen.
Von diesem Augenblick an setzten die Politiker alles daran, die Verluste von den Verursachern, den Bankern, auf unschuldige Dritte abzuwälzen: Mittelschicht-Schuldner, lohnabhängige Arbeiter und Angestellte, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung und Steuerzahler, die es sich nicht leisten konnten, Depots in Steueroasen zu unterhalten. Vor allem in Europa wurde ein Land gegen das andere aufgehetzt – und zwar von politischen Eliten, die entschlossen waren, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Aus einer von Bankern in Nord und Süd verursachten Krise machten sie einen Konflikt zwischen arbeitsscheuen Südländern und hart arbeitenden Nordeuropäern, oder eine Krise von angeblich allzu großzügigen Wohlfahrtssystemen in Deutschland, Italien oder Griechenland. Man muss kein Genie sein, um die Puzzleteile zusammenzusetzen und zu verstehen, warum – angesichts des Fehlens einer ernsthaften, wirkungsvollen, mit einer Stimme sprechenden Linken – in den USA und vor allem in Europa Nationalismus, Rassismus und eine allgemeine Menschenfeindlichkeit triumphieren.
1967 beschrieb der Ökonom John Kenneth Galbraith, wie der Kapitalismus sich von einer Marktgesellschaft in ein hierarchisches System verwandelt hatte, das von einem Unternehmens-Kartell kontrolliert wurde: der „Technostruktur“, wie er das nannte. Von einer globalen Elite angeführt, die Märkte an sich riss, Preise festsetzte und die Nachfrage kontrollierte, ersetzte die Technostruktur das Ziel des New Deal – Vollbeschäftigung – durch das eines wachsenden Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Seit Ende der 1970er erweiterte die Technostruktur ihren Machtbereich, indem sie sich die schwarze Magie der Finanzialisierung einverleibte. Ein Beispiel dafür ist die Umwandlung von Autoherstellern wie General Motors in große spekulative Finanzunternehmen, die nebenbei auch noch ein paar Autos produzieren. Damit vergrößerte die Technostruktur ihre Macht um einen schwindelerregenden Faktor und ersetzte schließlich das Ziel des BIP-Wachstums durch „finanzielle Resilienz“: anhaltende Vermögenszuwächse für die wenigen und dauerhafte Sparpolitik für die vielen.
Dies stärkte die auf dem Dollar beruhende Hegemonie der Technostruktur in einem Ausmaß, wie es kein makroökonomischer Ansatz nachvollziehen kann, weil sich Makroökonomie per se auf die Volkswirtschaft von Staaten beschränkt – das eigentliche Geschehen hingegen fand seit den 1990er Jahren in den Bilanzen globaler Finanziers statt.
Am Ende gerieten Finanzialisierung und Technostruktur wegen des Ausmaßes ihrer eigenen Hybris an den Rand des Untergangs. Zwei Mächte gingen daran, das ganze Konglomerat vor sich selbst zu retten: zum einen die US-Regierung und vor allem die Billionen von Dollar, die die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) durch im Branchenjargon swap lines genannte währungspolitische Abkommen in europäische Privat- und Zentralbanken pumpte. Zum anderen intervenierte China, dessen kluges Wirtschaftsmanagement für Inlandsinvestitionen von nie dagewesenem Ausmaß sorgte; China behielt wertlose Dollar-Vermögenswerte, die viele andere abstießen, und ging sogar so weit, eine multilaterale Clearing-Union anzuregen, wie sie John Maynard Keynes auf der Bretton-Woods-Konferenz 1944 vorgeschlagen hatte und wie sie Handelsungleichgewichte auszugleichen vermag. Doch die US-Regierung unter Barack Obama lehnte Chinas Vorschlag ab. Sie zog es vor, das Privileg des Dollars nicht anzutasten und dafür einen höchst instabilen Kapitalismus in Kauf zu nehmen.
Wir müssen uns wehren
Während die Technostruktur von zwei Regierungen, der der USA und der Chinas, gerettet wurde, machten die Herrschenden alles Mögliche für die Krise verantwortlich: die Kosten der Sozialstaatssysteme, zu hohe Löhne, vermeintlich zu starre Arbeitsmärkte oder Gewerkschaften, die noch gegen die weitere Prekarisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern kämpften. Jene selbstzerstörerische Sparpolitik kolossalen Ausmaßes, für die die Regierenden verantwortlich zeichneten, brachte vermeidbares massenhaftes Leid und Unrecht mit sich.
Jene brandgefährliche Fantasie von einer apolitischen Wirtschaftspolitik verhüllt bis heute den Klassenkampf, mit dem das Establishment alle Risiken und Verluste auf die Schwachen abwälzt und von ihnen verlangt, sich „in das Unvermeidliche zu ergeben“. Weil eine progressive internationalistische Alternative fehlt, treiben die Mächtigen jener Technostruktur ganze Bevölkerungen in die offenen Arme eines postmodernen Faschismus.
Zehn Jahre nach dem Kollaps von Lehman Brothers und jenem Moment der aporía hält sich die Technostruktur immer noch an den Schalthebeln der Macht. Aber der neoliberale populistische Mythos, auf den sie sich bezog, um konsensfähig zu sein, der ist am Ende – so etwa die Vorstellung, in einer vollkommen deregulierten Wirtschaft könnten die Wünsche aller auf demokratischem Wege in Erfüllung gehen.
Überrascht es da, dass Rassismus und geopolitische Spannungen in aller Welt überhandnehmen? War es nicht unvermeidlich, wie manche bereits seit 2008 warnten, dass eine nationalistische Internationale an Zustimmung gewinnen würde? Dass ihre xenophoben Parolen an die Macht gelangen würden, im Weißen Haus, in Italien, Österreich, Polen, Ungarn, in den Niederlanden und vielleicht bald auch in Deutschland, sobald Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Seite geräumt worden ist?
Wir sind an einem Punkt angelangt, der für unsere Generation den 1930er Jahren entspricht – kurz nach dem Crash, im Angesicht eines faschistischen Momentums. Die für diese Generation drängende Frage ist hart. Aber auch wenn kein junger Mensch es verdient hat, mit solch einer harten Frage konfrontiert zu werden, so haben wir alle doch kein Recht, uns ihrer Beantwortung zu entziehen: Wann und wie werden wir gegen die nationalistische Internationale aufstehen, die im gesamten Westen durch den hirnverbrannten Umgang der Technostruktur mit ihrer unvermeidlichen Krise entstanden ist?