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Zwischen Pest und Cholera

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Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch ››Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland‹‹ veröffentlicht. Am 9. September ist sein Buch ››Ungleichheit in der Klassengesellschaft‹‹ erschienen. Seuchen hatten schon immer Auswirkungen auf die Sozialstruktur. Hier ähnelt Corona der Cholera – die Pandemie verschärft die ohnehin schon große Ungleichheit in Deutschland. Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit beigetragen, wenn auch immer nur für eine gewisse Zeit. Dies geschah etwa bei der mittelalterlichen Pest, die wegen fehlender Käufer zu einem Verfall der Lebensmittel-, Boden- und

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Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch ››Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland‹‹ veröffentlicht. Am 9. September ist sein Buch ››Ungleichheit in der Klassengesellschaft‹‹ erschienen.

Seuchen hatten schon immer Auswirkungen auf die Sozialstruktur. Hier ähnelt Corona der Cholera – die Pandemie verschärft die ohnehin schon große Ungleichheit in Deutschland.

Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit beigetragen, wenn auch immer nur für eine gewisse Zeit. Dies geschah etwa bei der mittelalterlichen Pest, die wegen fehlender Käufer zu einem Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise sowie wegen fehlender Arbeitskräfte und einer gestärkten Verhandlungsposition der übriggebliebenen zu einem Anstieg der Löhne führte.

Hingegen traf die Cholera im 19. Jahrhundert die Immun- und Einkommensschwächsten wegen ihrer hygienisch bedenklichen Wohnverhältnisse sowie ihrer katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen am stärksten, wodurch sie keine sozial nivellierende oder egalisierende, vielmehr eine polarisierende Wirkung entfaltete. Daher wurden die Reichen während der epidemischen Ausnahmesituation reicher und die Armen zahlreicher.

Eine ausgeprägte Verteilungsschieflage schon vor der Covid-19-Pandemie

Bevor die Frage erörtert wird, welchen Einfluss die Coronakrise auf die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland hatte und noch hat, sollen ein paar Zahlen deren erhebliches Ausmaß schon vor dieser Pandemie belegen. Sie stehen für die Einkommens- und die Vermögensverteilung in Deutschland, weil sich der Reichtum eines Menschen nach der Art und dem Umfang seines Vermögens bemisst, während die Armut eines Menschen an der Höhe seines Einkommens im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung festgemacht wird.

45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien besitzen laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen. Laut den jüngsten Forschungsergebnissen des DIW entfallen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Auf dieser Basis wurde ein Gini-Koeffizient von 0,83 errechnet, was beinahe dem US-amerikanischen Vergleichswert entspricht und die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.

Nach den Maßstäben der Europäischen Union galten über 13,3 Millionen Menschen im Jahr 2019 hierzulande als von Armut betroffen oder bedroht. Sie hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.074 Euro im Monat entsprach. Mit 15,9 Prozent erreichte die Armuts(gefährdungs)quote einen Rekordstand im vereinten Deutschland. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Rentner seit geraumer Zeit deutlich zunimmt.

Vom „rheinischen“ zum schweinischen Kapitalismus?

Der französische Ökonom Michel Albert hat die deutsche Gesellschaft kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR zusammen mit den Niederlanden und der Schweiz (sowie den skandinavischen Staaten und Japan) als ››rheinischen Kapitalismus‹‹ bezeichnet und ihn dem angelsächsischen bzw. US-amerikanischen Wirtschaftsmodell idealtypisch gegenübergestellt. Obwohl das rheinische Modell gerechter und effizienter sei, werde sich das ultraliberale, weniger egalitäre Modell des US-Kapitalismus – bedingt durch die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die neoliberale Globalisierung der Finanzwirtschaft – über die ganze Welt ausbreiten, prognostizierte Albert damals.

Feuilletonistisch ausgedrückt hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel vom ››rheinischen‹‹ zum schweinischen Kapitalismus stattgefunden. Bei dem Letzteren handelt es um ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet sowie der Profitmaximierung durch eine kleine Gruppe von Multimillionären und Milliardären – die eng mit Exponenten des politischen und Regierungssystems verbunden sind – kaum Grenzen setzt.

Dies wurde nie deutlicher als während der Covid-19-Pandemie: Mehr als 1.400 Beschäftigte der größten Fleischfabrik Europas, in der man täglich zehntausende Schweine schlachtet, zerlegt und weiterverarbeitet, wurden im Juni 2020 positiv auf das Coronavirus getestet. Darunter waren besonders viele polnische, rumänische und bulgarische Werkvertragsarbeiter, die unter skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen litten. Alle seinerzeit am Hauptsitz des Fleischkonzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätigen Menschen mussten sich mitsamt ihren Familien in Quarantäne begeben, weil ein Überspringen des Virus auf die Gesamtbevölkerung befürchtet wurde.

Kurz darauf drang an die Öffentlichkeit, dass der Fleischbaron Clemens Tönnies an die nordrhein-westfälische CDU gespendet und der frühere SPD-Vorsitzende, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel gutdotiert als Berater für die Familienholding gearbeitet hatte. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil will zwar Großbetrieben die Werkverträge in der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung ab 1. Januar 2021 verbieten und ab 1. April 2021 dort auch keine Leiharbeit mehr zulassen; für andere Branchen mit ähnlichen Zuständen gilt dies aber nicht. Außerdem machten sich die Lobbyisten sofort über den Gesetzentwurf her, um ihn aufzuweichen. Und die betroffenen Schlachthöfe bereiteten sich durch die Gründung von Tochterunternehmen auf die Umgehung der ihnen drohenden Verbote vor.

Die soziale Schlagseite der Pandemie

Da sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Rheuma oder COPD (Raucherlunge), katastrophale Arbeitsbedingungen (z.B. in der Fleischindustrie) sowie beengte Wohnverhältnisse das Risiko für eine Infektion mit dem als Sars-CoV-2 bezeichneten Coronavirus und für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf erhöhten, traf die Pandemie in aller Welt arme Personen stärker als reiche. Untersuchungen aus den USA zeigen, dass die afroamerikanische Minderheit besonders stark von einer Covid-19-Erkrankung betroffen war, und in Brasilien hat sich das Virus hauptsächlich in den Favelas eingenistet, wo diejenigen wohnen, die das Leben der Wohlhabenden und Reichen durch ihre meist schlecht entlohnten Servicedienste erleichtern und verschönen.

Zwar brachen die Aktienkurse nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie an sämtlichen Börsen der Welt vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die generell zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Hedgefonds und Finanzkonglomerate wie BlackRock wetteten hingegen sogar mittels Leerverkäufen erfolgreich auf fallende Aktienkurse und verdienten an den Einbußen der Kleinanleger. Großinvestoren dürften die Gunst der Stunde außerdem für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen genutzt und davon profitiert haben, dass der Kurstrend in Erwartung staatlicher Konjunkturprogramme bald wieder nach oben zeigte.

Zu den Hauptprofiteuren des Krisendesasters gehörten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Chefs. So expandierte das Amazon-Imperium unmittelbar nach dem Beginn der Pandemie und suchte allein in den USA 100.000 zusätzliche Arbeitskräfte, um den Boom im Online-Versandhandel zu bewältigen. Im ersten Quartal 2020 stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahresergebnis um 26 Prozent auf 75,5 Milliarden US-Dollar (68,9 Milliarden Euro). Und Jeff Bezos, vorher schon reichster Mann der Welt, vergrößerte sein Vermögen aufgrund der Coronakrise weiter. Auf dem Höhepunkt der Pandemie war es im Vergleich zum Jahresbeginn 2020 laut dem Bloomberg Billionaires Index um 24 Milliarden Dollar auf 138,5 Milliarden Dollar (126,1 Milliarden Euro) gestiegen.

Laut einer Studie des Washingtoner Instituts für politische Studien sind die US-Milliardäre zwischen dem 18. März und dem 10. April 2020 um 282 Milliarden Dollar reicher geworden, während Millionen Nordamerikaner arbeitslos wurden. Ihre vorübergehenden Gewinneinbrüche, zu denen es während der Coronakrise gekommen war, glichen die Hyperreichen schnell wieder aus.

Hierzulande wurde die ohnehin brüchige Lebensgrundlage von Bettlern, Pfandsammlern und Verkäufern von Straßenzeitungen durch Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen zerstört, weil fehlende Passanten und die Furcht der verbliebenen vor einer Infektion teilweise zum Totalausfall der Einnahmen führten, was stärkere Verelendungstendenzen in diesem Sozialmilieu nach sich zog. Außerdem nahm die finanzielle Belastung von Transferleistungsbeziehern, Kleinstrentnern und Geflüchteten durch die Schließung der meisten Lebensmitteltafeln weiter zu. Aufenthaltsbeschränkungen und Abstandsregelungen förderten tendenziell die Vereinsamung und die soziale Isolation, von der Arme, Alte und Menschen in beengten Wohnverhältnissen grundsätzlich am stärksten bedroht sind.

Wahrscheinlich hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich auch deshalb weiter vertieft, weil kleine Einzelhändler und Soloselbstständige wegen der Schließung ihrer Läden oder fehlender Aufträge und Auftritte ihre Existenzgrundlage verloren. Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Bankrotten geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, um zu sparen, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord, Aldi Süd und Lidl, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sein dürften. Schon vorher wurde das Privatvermögen von Dieter Schwarz, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland, mit 41,5 Milliarden Euro (Stand: September 2019) veranschlagt.

Infolge der Coronakrise sind auch mehr Girokonten von prekär Beschäftigten, Soloselbstständigen, Kurzarbeitern und Kleinstunternehmern ins Minus gerutscht, weshalb gerade die finanzschwächsten Kontoinhaber hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten. Dadurch wurden jene Personen, denen die Banken oder Anteile daran gehören, noch reicher. Vergleichbares gilt für die Kassen- bzw. Liquiditätskredite überschuldeter Kommunen, die geringere Gewerbesteuereinnahmen, aber höhere Sozialausgaben als vor der Covid-19-Pandemie hatten. Daher hat die öffentliche Armut zugenommen, während der private Reichtum weniger Hochvermögender gestiegen ist.

Hilfsmaßnahmen und Rettungsschirme: Unsummen für die Wirtschaft – Brosamen für die Armen

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise nach kurzem Zögern fast über Nacht weit mehr als eine Billion Euro für direkte Finanzhilfen, Bürgschaften und Kredite mobilisiert. Letztere kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während kleine und mittlere Unternehmen mit einmaligen Zuschüssen unterstützt wurden, die laufende Betriebskosten decken, aber nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet werden durften. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung (Abschied von der Schwarzen Null und den Restriktionen der Schuldenbremse) profitierten, mussten sich die Finanzschwachen verglichen mit den Fördermaßnahmen für die Wirtschaft bescheiden. Selbst die beiden Sozialschutz-Pakete von CDU, CSU und SPD wiesen eine verteilungspolitische Schieflage auf.

Überbrückungshilfen für Branchen, die von einem »Corona-bedingten Umsatzausfall‹‹ betroffen sind, stellen mit Kosten in Höhe von 25 Milliarden Euro maximal den größten Einzelposten des ››Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets‹‹ der Großen Koalition dar. Kaum weniger teuer wird die Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 16 Prozent bzw. von sieben Prozent auf fünf Prozent, die dem Staat einen Einnahmeausfall in Höhe von 20 Milliarden Euro bescheren kann.

Ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz ist an sich durchaus wünschenswert, weil diese Steuerart arme Personen, die einen Großteil ihres Einkommens in den Alltagskonsum stecken (müssen), am härtesten trifft. Nur wenige Händler dürften wegen der befristeten Mehrwertsteuersenkung die Preise ihrer Waren für die Dauer eines halben Jahres jedoch gesenkt haben. Je umsatzstärker und deshalb meist auch kapitalkräftiger ein Unternehmen ist, umso stärker profitiert es von der Mehrwertsteuersenkung, zumindest wenn es diese nicht an seine Kunden weitergibt. Die am härtesten von der Pandemie betroffenen Personengruppen kaufen auch nur selten hochpreisige Konsumgüter, bei denen sich die zeitweilige Steuerersparnis noch am ehesten auswirkt.

Wenn die Bundesregierung im Rahmen ihrer Hilfsmaßnahmen einem Vergabeprinzip folgte, war es die ››Leistungsgerechtigkeit‹‹, bei der es um den ökonomischen Erfolg einer Personengruppe geht, die Unterstützung braucht: Gewinneinbußen vor der Covid-19-Pandemie rentabler Unternehmen wollte die Große Koalition mittels finanzieller Soforthilfen ausgleichen, und Lohn- bzw. Gehaltseinbußen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sollten mittels Kurzarbeitergeld abgemildert werden. Transferleistungsempfänger hatten durch den Lockdown hingegen scheinbar nichts verloren und daher auch wenig zu erwarten.

Stattdessen hätte die Bedarfsgerechtigkeit als Ziel von Hilfsmaßnahmen im Mittelpunkt aller Bemühungen der politisch Verantwortlichen stehen und das Motto lauten sollen: Wer wenig hat, muss besonders viel, und wer viel hat, muss entsprechend wenig Unterstützung seitens des Sozialstaates bekommen.

Am 9. September ist von Christoph Butterwegge das Buch ››Ungleichheit in der Klassengesellschaft‹‹ (183 Seiten, Ladenverkaufspreis: 14,90 Euro) im PapyRossa Verlag erschienen.

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