Klaus Dräger war langjähriger Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Beschäftigungs- und Sozialausschuß des Europäischen Parlaments. Er gehört dem Beirat der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z an. Die EU-Kommission hat einen Plan zu wirtschaftlichen Erholung über 750 Milliarden Euro für die am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Mitgliedsländer vorgelegt. Nach dem Scheitern der Corona-Bonds wird der Recovery-Plan von vielen als Wende hin zu einer neuen Integrationsdynamik interpretiert. Einen „Quantensprung“ nennt der DGB euphorisch den Plan, die New York Times spricht von „einem historischen Augenblick“ und die Spin-Doktoren von Olaf Scholz ließen sich sogar einen besonderen Gag einfallen, als sie ihrem Chef von einem „Hamilton Moment“ schwärmen
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Peter Wahl considers the following as important: Recovery-Plan der EU
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Klaus Dräger war langjähriger Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Beschäftigungs- und Sozialausschuß des Europäischen Parlaments. Er gehört dem Beirat der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z an.
Die EU-Kommission hat einen Plan zu wirtschaftlichen Erholung über 750 Milliarden Euro für die am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Mitgliedsländer vorgelegt. Nach dem Scheitern der Corona-Bonds wird der Recovery-Plan von vielen als Wende hin zu einer neuen Integrationsdynamik interpretiert.
Einen „Quantensprung“ nennt der DGB euphorisch den Plan, die New York Times spricht von „einem historischen Augenblick“ und die Spin-Doktoren von Olaf Scholz ließen sich sogar einen besonderen Gag einfallen, als sie ihrem Chef von einem „Hamilton Moment“ schwärmen ließen.
Hamilton war der erste Finanzminister der USA und setzte 1790 durch, dass die Zentralregierung die Schulden der vormaligen Kolonien aus dem Unabhängigkeitskrieg übernehmen. Die Historiker werten das als einen entscheidenden Schritt zur Konstituierung des amerikanischen Bundesstaats. Olaf Scholz also als Wegbereiter der Vereinigten Staaten von Europa, so die PR-Botschaft.
Nun sind 750 Milliarden Euro, die der Recovery-Plan der EU[1] umfassen soll, tatsächlich eine Menge Geld. Aber eine Bilanz besteht nicht nur aus Aktiva. Zudem ist der Plan noch nicht verabschiedet. Es gibt von verschiedenen Seiten Widerstand. Am Schluss wird eine modifizierte Kompromissversion rauskommen.
Von den 750 Milliarden sind 250 Milliarden Kredite, 500 Milliarden nicht rückzahlbare Zuschüsse. Finanziert werden soll das Programm wie seinerzeit schon der Juncker Plan über „gehebelte“ Kreditaufnahme der Kommission auf den Finanzmärkten. Rechnet man die Hebelwirkung heraus, so beträgt der reale Anteil an EU-Mitteln 360 Milliarden Euro.
Die Tilgung soll aus den laufenden Haushalten ab 2028 erfolgen und bis 2058, also in 38 Jahren abgeschlossen sein. Bei 30 Jahren Laufzeit wäre das im Jahresschnitt eine Tilgungssumme für die Zuschüsse von 16,7 Milliarden Euro, also 1,6% des gegenwärtigen EU-Budgets. Die Kommission wünscht sich die Deckung durch neue Eigenmittel. Aber die Chancen dafür stehen schlecht, denn das wäre ein Eingriff in die Machtbalance zwischen Mitgliedsstaaten und supranationaler Ebene und erforderte eine Vertragsveränderung. Allerdings ist um diese Frage zukünftiger Streit vorprogrammiert.
Im Unterschied zu Corona-Bonds haften die Mitgliedsstaaten nicht gesamtschuldnerisch, sondern nur in Höhe ihres Anteils am Beitrag zum Gesamtbudget. Das heißt, der potentielle Umverteilungseffekt ist deutlich geringer als bei den Bonds, abgesehen davon, dass die Chance, dass ein Mitgliedsland Bankrott geht, viel größer ist als dass die Kommission zahlungsunfähig wird.
Vertiefung der ökonomischen und politischen Asymmetrien
Die Eurozone wird nach gegenwärtigem Stand von allen großen Wirtschaftsakteuren am schwersten von der Krise getroffen. Die OECD prognostiziert ein Schrumpfen des BIP um 9,1% (siehe Tabelle 1). Angesichts der Ungewissheit über den weiteren Verlauf der Pandemie arbeitet die OECD mit zwei Szenarien, einem optimistischen, ohne zweite Infektionswelle, und einem pessimistischen, mit einem zweiten Lockdown. Wir übernehmen hier das optimistische Szenario.
Das bedeutet, dass die EU im globalen Wettbewerb der kapitalistischen Zentren noch stärker abgehängt wird, als das ohnehin schon der Fall ist. Darüber hinaus ist die Betroffenheit innerhalb der EU ebenfalls höchst ungleich verteilt (siehe Tabelle 2).
Deutschland kommt vergleichsweise gut weg, während Frankreich, Italien und Spanien hart getroffen werden. Das wird die wirtschaftlichen und sozialen Asymmetrien innerhalb der EU weiter vertiefen. Und es hat Konsequenzen für die informelle Machtarchitektur. Die deutsche Position wird deutlich gestärkt, gerade auch im deutsch-französischen Verhältnis. Die Versuche Macrons, in der Hierarchie wieder auf Augenhöhe mit Berlin zu kommen, werden durch die Krise zunichte gemacht.
Rettungspaket mit Nebenwirkungen
Verstärkt wird dieser Trend zusätzlich dadurch, dass auch die nationalen Rettungspakete die Unterschiede im Wirtschaftspotential reproduzieren. Die deutschen Maßnahmen – Kredite, Garantien, Zuschüsse inklusive „Wumms-Programm“ – summieren sich auf 1,15 Billionen Euro, also ein Drittel des deutschen BIP. Dagegen mobilisiert Frankreich bisher nur 324 Milliarden Euro = 13,4% seines BIP, Italien 17% und Spanien gar nur 2,2%.[2] Gleichzeitig führen die Rettungsmaßnahmen zu einem Anstieg der öffentlichen Verschuldung Italiens um 24%, für Spanien um 23% und für Frankreich um 20%, während die Deutschen mit einem Zuwachs von 15% davonkommen.
Da es zu den einmaligen Besonderheiten des Euro-Systems gehört, dass Schulden in der eigenen Währung wie eine Verschuldung in Fremdwährung wirken, wird dies nicht nur dauerhaft Austeritätsdruck bei den Südländern erzeugen, sondern auch den Rückstand auf Deutschland vergrößern.
Von den Zuschüssen soll Italien 81,8 Milliarden Euro erhalten, Spanien 77,3 Milliarden[3] und Frankreich 39 Milliarden.[4] Aber allein der prognostizierte Anstieg der Schulden beläuft sich für Italien schon auf 429 Milliarden Euro, für Spanien auf 286 Milliarden und für Frankreich 480 Milliarden Euro. Hinzu kommt, dass durch den Brexit der Beitragsanteil der Nettozahler, zu denen sowohl Italien als auch Frankreich gehören, steigen wird.
Der Plan wird also das Auseinanderdriften nicht verhindern, sondern lediglich nicht noch schlimmer werden lassen. Der offiziöse Brüsseler Think Tank BRUEGL stellt daher zutreffend fest, dass „die angekündigten Maßnahmen unter dem bleiben, was die katastrophale Lage erfordern würde.“
Keine wirklich strukturellen Veränderungen
„Und nach dieser Krise – so viel ist klar – wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vorher.“ Das meinte schon 2008 der damalige Finanzminister Peer Steinbrück anlässlich des Finanzcrashs. Auch jetzt hegen viele eine solche Hoffnung. Das Recovery Programm allerdings wird keinen Beitrag dazu leisten, wie ein Blick auf die vorgesehenen Zweckbindung zeigt.
Der größte Posten entfällt mit 560 Milliarden Euro auf die neue Europäische Aufbau- und Resilienzfazilität, deren Ziele nicht näher bestimmt sind. Für diese sollen die neoliberalen Konditionalitäten des Europäischen Semesters gelten.
Die übrigen Initiativen des Plans sind nach drei Säulen gruppiert und stocken meist bereits bestehende EU-Programme auf. Bei der ersten geht es darum, mit Anreizen für mehr private Investitionen einen Konjunkturaufschwung einzuleiten. Ziel ist, Unternehmen vor der Insolvenz zu bewahren und die Zulieferketten im EU-Binnenmarkt zu stabilisieren.
Vor allem der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) machte Druck in diese Richtung und warb für „Solidarität mit Italien.“ Nach der Finanzkrise kauften deutsche Unternehmen massiv ihre italienischen Zulieferfirmen in Norditalien auf. Solidarität mit Italien à la BDI ist völlig eigennützig: die deutschen Zulieferbetriebe in Norditalien retten und Italien (und auch Spanien) als wichtige Absatzmärkte für die deutsche Exportwirtschaft stabilisieren. Von den bisherigen staatlichen Rettungsschirmen der Mitgliedsländer an die Unternehmen ging rund die Hälfte an deutsche Firmen, aber nur 18% an italienische und 4,3% an spanische. Das deutsche Kapital ist darauf bedacht, seine Dominanz in der EU zu stärken und das deutsche Exportmodel zul erhalten.
Die zweite Säule soll die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Gesundheitssysteme verbessern. Von den 110 Milliarden Euro, die davon als Fördermittel vorgesehen sind, ist der größte Teil (94,4 Milliarden) für das bestehende Forschungsförderungsprogramm Horizon Europe vorgesehen. Das kritisch gegen den Einfluss der Wirtschaftslobby auf die EU eingestellte Corporate Europe Observatory (CEO) hat unlängst untersucht, wie die EU-Fördermittel dieses Programms durch öffentlich-private Partnerschaften im Bereich der Pharmaforschung und der ‚Bioindustrien‘ genutzt werden. Ergebnis: die beteiligten Unternehmen bestimmen die Schwerpunkte der Forschungsprojekte und nutzen sie zu ihrem direkten eigenen Vorteil. Auch in dieser Säule sollen also überwiegend Kapitalinteressen bedient werden.
Die dritte Säule ist Ursula von der Leyens Green Deal vorbehalten, von dem sie sagt, es sei „unser neues Wachstumsprogramm.“ Es geht dabei um den Ausbau erneuerbarer Energien, energetische Sanierung von Bestands-Gebäuden, aber auch um ökologisch nicht nachhaltige Projekte wie die Förderung der Elektromobilität oder CO2-Abscheidung und -speicherung. Zum Thema Kreislaufwirtschaft setzt die Kommission mehr auf Recycling statt auf Müllvermeidung.
Zur Digitalisierung bietet sie das Übliche: schneller Ausbau von 5G-Netzen, künstliche Intelligenz, Supercomputer und Clouds. Jugendarbeitslosigkeit soll bekämpft, Entlassungen mit dem bereits beschlossenen Programm zur Finanzierung von Kurzarbeit (SURE, 100 Milliarden Euro) sollen vermieden werden. Zur Beschäftigungspolitik spricht die Kommission von „Resilienz“, also den Arbeitsmarkt gegen äußere Schocks und Krisen widerstandsfähiger zu machen. Klingt gut – wie Felix Syrovatka darlegt, geht es dabei aber nun verstärkt um arbeits- und lohnpolitische Flexibilisierung im Interesse der Unternehmen.[5]
Schließlich soll auch noch der sog. Verteidigungsfonds bedacht werden, wie sich überhaupt als Leitmotiv durch das Paket die Sehnsucht nach Großmachtstatus zieht.
Last not least behält die Kommission durch die Einbettung in den Haushalt die Kontrolle über die Verwendung der Zuschüsse, wie das so auch für die gängige Mittelvergabe ist – inklusive Europäisches Semester, mit dem Brüssel Druck auf die Haushaltspolitik der Mitgliedsländer ausüben kann.
Notnagel statt Integrationsdynamik
Wer also gehofft hatte, dass es zu substantiellen Veränderungen im ökonomischen Leitbild kommt, oder dass gar der Neoliberalismus verabschiedet würde, wird enttäuscht sein. Der Plan wird nicht einmal den status quo ante sichern. Dass die Bundesregierung überhaupt dazu bereit war, ist der Einsicht geschuldet, dass der Corona-Schock zu nicht hinnehmbaren ökonomischen und politischen Verwerfungen für Deutschland führen würde. Alles in allem also ein Notnagel, diktiert von den Sachzwängen einer so nie dagewesenen Krise. Ob der Notnagel hält, wird die Zukunft zeigen.