Anfang der 1980er Jahre begann man damit, Sozialpolitik umzudeuten: plötzlich sollte die Rente Wachstum generieren. Nachruf: Der Makroskop-Autor Wolfgang Scholz ist Anfang Juni verstorben. Man kann ihn am besten durch einen seiner unvergleichlichen Artikel würdigen. Er war unglaublich klug und belesen, so dass man sich Worte der Würdigung sparen kann, wenn man bereit ist, diesem Mann durch seine Texte aufmerksam zuzuhören. Ich lernte Wolfgang Scholz schon mit jungen Jahren kennen, als wir beide (gleicher Jahrgang) in verschiedenen Ministerien in Bonn bei interministeriellen Besprechungen aufeinandertrafen. Der aufmüpfige Hilfsreferent aus dem Bundeswirtschaftsministerium traf auf einen nicht minder kritischen, aber doch etwas zurückhaltenderen Kollegen aus dem
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Anfang der 1980er Jahre begann man damit, Sozialpolitik umzudeuten: plötzlich sollte die Rente Wachstum generieren.
Nachruf:
Der Makroskop-Autor Wolfgang Scholz ist Anfang Juni verstorben. Man kann ihn am besten durch einen seiner unvergleichlichen Artikel würdigen. Er war unglaublich klug und belesen, so dass man sich Worte der Würdigung sparen kann, wenn man bereit ist, diesem Mann durch seine Texte aufmerksam zuzuhören.Ich lernte Wolfgang Scholz schon mit jungen Jahren kennen, als wir beide (gleicher Jahrgang) in verschiedenen Ministerien in Bonn bei interministeriellen Besprechungen aufeinandertrafen. Der aufmüpfige Hilfsreferent aus dem Bundeswirtschaftsministerium traf auf einen nicht minder kritischen, aber doch etwas zurückhaltenderen Kollegen aus dem Arbeitsministerium. Er war so wie in den Filmen, wo der Mensch sich plötzlich unter lauter Mensch gewordenen Aliens bewegt und sich fragt, wie er wohl die eigene Spezies erkennen könne. Und es gelingt dadurch, dass man sehr genau zuhört, dass man Untertöne registriert und ein feines Gespür für Ironie entwickelt. Die Aliens kennen nämlich weder Untertöne noch Ironie!
Wolfgang Scholz konnte ungemein ironisch und feinsinnig sein und auf diese Weise anderen Menschen klar zeigen, zu welcher Kategorie er gehörte. Als ich ihn viele Jahrzehnte nach unserem gemeinsamen Beamtendasein wiedertraf, hatte er sich die E-Mail-Adresse „Luzius-Konfuzius“ zugelegt, die viel darüber aussagt, wie kritisch und zugleich selbstkritisch und selbstironisch er die Welt sah. Makroskop verliert mit Wolfgang Scholz einen bedeutenden Autoren, der sich ein Wissen im Bereich der Sozialsysteme dieser Welt erworben hatte, das unvergleichlich war und nicht ersetzt werden kann.
Heiner Flassbeck
Am 21. Januar 2019 berichtet das Wirtschaftsressort der FAZ über Jair Bolsonaros Wirtschaftspolitik. Bei dieser gehe es „etwas langsamer“ voran als bei der weitgehenden Freigabe von Waffenbesitz und der Säuberung der Ministerien, so die Zeitung. Wobei die Diskussion „sich verständlicherweise auf die anstehende Rentenreform [konzentriere], ohne die Brasiliens Staatsfinanzen nach Einschätzung praktisch aller Ökonomen in den nächsten Jahren völlig aus dem Ruder laufen würden.“ Man erwarte also, dass der „Superminister“ Guedes, ein ehemaliger Investmentbanker und Chicago-Boy, ein Konzept vorlegen werde, das dem chilenischen Rentenmodell folge, an dem Guedes vor Jahrzehnten selbst tatkräftig mitgearbeitet hatte.
Nun soll es hier nicht um Brasiliens Rentensystem gehen, das in der Tat reformüberfällig ist.[1] Es stellt sich aber die Frage, wieso Sozialpolitik sich seit nunmehr drei Jahrzehnten weltweit und zunehmend in einer tragenden Rolle für die Wachstumspolitik wiederfindet. Und warum daher Feststellungen möglich geworden sind, die der Rentenpolitik eine dienende Funktion gegenüber der Wirtschaftspolitik zuweisen.
Selbstverständlich könnte man es bei der kurzen Antwort belassen, dass diese funktionale Sicht zum Kern neoliberaler Programmatik gehört. Eine nähere Betrachtung fördert jedoch interessante Details zutage, die einen differenzierteren Blick auf die jüngste „Geschichte des Sozialen“ und einige ihrer Akteure vermitteln.
Sozialpolitik als Wachstumspolitik – das neue Paradigma
Betrachtet man etwa das „sozialdemokratische“ oder nordische Sozialmodell[2], dann gibt es nach dem dänischen Politologen Klaus Petersen zwei Versionen: eine, die die klassischen Funktionen sozialer Sicherung übernimmt, und eine zweite, die wachstumsorientiert ist, also Wettbewerb und Innovation zu ihren Zielen macht.
Beide Modelle folgten verschiedenen, aber miteinander verbundenen Logiken: In der sozialen Sicherungslogik seien Wirtschaftswachstum und Entwicklung Voraussetzungen für soziale Sicherung. Die Ziele sozialer Sicherheit seien hier klassisch, also Inklusion, Bekämpfung von Armut, Umverteilung und Gleichheit sowie Chancengleichheit. In der Wachstumslogik werde soziale Sicherheit hingegen zum Zwecke der Stärkung der nationalen Volkswirtschaft eingesetzt. Die Ziele seien Wirtschaftswachstum, Innovation und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die Agenda 2010 ist ein typisches Beispiel für diese Logik.
„Der nordische Wohlfahrtsstaat begann als das erste Modell und wurde während der letzten Jahrzehnte allmählich in das zweite Modell transformiert“, so Petersen. Und er ergänzt:
„An der Oberfläche mögen die Dinge aussehen wie immer, man sieht auch immer noch die gleichen [sozialpolitischen] Institutionen, aber bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass sie inzwischen der neuen Logik folgen: der Wohlfahrtsstaat ist nicht länger das Ziel, sondern Zweck ihres Handelns.“[3]
Diese skandinavische Entwicklung war und ist für die internationale sozialpolitische Reformdiskussion von erheblicher Brisanz, da das nordische Sozialmodell nach wie vor weltweit – besonders während der Phase intensiver Reformen von ca. 1990 bis 2010 – als Referenzrahmen fungiert.
Es wundert daher nicht, dass ähnliche Umdeutungen von Sozialpolitik zeitgleich in Europa sowie in den USA, Lateinamerika und zum Teil auch in Asien stattfanden. In Osteuropa war die konzeptionelle Transformation sozialer Sicherung zwar ganz und gar nicht allmählich, sondern – nach dem Mauerfall – abrupt-chaotisch, bekam aber gerade deswegen dieselbe ökonomische Zweckorientierung zugeteilt und wurde mitunter sogar von viel radikaleren Maßnahmen begleitet als im Westen. In Polen zum Beispiel wurden die Sozialrenten unter wohlwollender Zustimmung der EU perspektivisch auf sinnlos niedrige Niveaus herunterreguliert.
Am radikalsten gedacht wurde die ökonomische Zweckorientierung sozialer Sicherung allerdings – vom Westen wenig beachtet – in China. Die Umsetzung der Beschlüsse zur Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft durch die Kommunistische Partei von Ende 1978 führte rasch zu der Einsicht, dass gleichzeitig auch ein soziales Auffangnetz nötig wurde. Nur so ließen sich die negativen Beschäftigungswirkungen der vorgesehenen Politik, die rasch die produktiven von den unproduktiven Betrieben trennen würde, wenigstens teilweise auffangen. Praktisch alle sozialpolitischen Institutionen und Maßnahmen – von der Sozial- und Arbeitslosenhilfe bis zur Rente – wurden dahingehend überprüft und, wo möglich, entsprechend reformiert und eingesetzt.
Man erhoffte sich von der intensivierten Sozialpolitik auch nachfrageerhöhende Wirkungen, die den zu erwartenden kurz- bis mittelfristigen und regionalen Produktionsausfällen entgegenwirken sollten. Diese Wirkungen konnten allerdings nur sehr begrenzt sein. Gegenwärtig hat das zuletzt dynamisch wachsende chinesische Sozialbudget erst einen Umfang von ca. 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts erreicht; dementsprechend gering sind seine gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen auf die Nachfrage während des Transformationsprozesses gewesen.
In jüngster Zeit gibt es Anzeichen dafür, dass die chinesische Regierung – ganz klassisch – soziale Sicherung zunehmend als Ergebnis ökonomischer Entwicklung wahrnimmt und nicht länger primär als ihr Instrument. So ist es Ziel des gegenwärtigen Regierungsprogramms, die absolute Armut bis 2020 gänzlich zu eliminieren. Es bleibt abzuwarten, ob der vorhandene finanzielle Spielraum genutzt wird, um die Lage der Arbeitsmigranten zu verbessern.[4] Denn die knapp 300 Millionen binnenstaatlichen Migranten sind zwar de lege, kaum aber effektiv abgesichert. Um soziale Geld- und Sachleistungen für sich selbst und/oder ihre Familien in Anspruch nehmen zu können, müssen sie in ihre Meldegemeinden zurückkehren, was die tatsächliche Leistungsempfängerquote im Vergleich zur gesetzlichen deutlich drückt.
Wie Sozialpolitik zur Hilfspolitik für wirtschaftliches Wachstum wurde
Der 1989 formulierte Washington Consensus[5] – also der Kanon der gemeinsamen gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Überzeugungen der in Washington ansässigen internationalen Institutionen – ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Der Kanon hatte sich bereits seit Mitte der 1970er Jahre entwickelt und wurde auch von den europäischen Regierungen – die Sitz und Stimme in den einschlägigen Gremien der Bretton-Woods-Institutionen hatten – gestützt. In Stichworten zusammengefasst, beinhaltet der Konsensus folgende Punkte: fiskalische Disziplin, Re-Priorisierung öffentlicher Ausgaben, Steuerreform, Zinssatzliberalisierung, wettbewerbliche statt zwischenstaatlich abgestimmte Wechselkurse, Freihandel, Liberalisierung ausländischer Direktinvestitionen, Privatisierung, Gewährung von Eigentumsrechten (im informellen Sektor).
Diese Programmatik wurde selbstverständlich als auf die großen sozialen Umverteilungssysteme anwendbar verstanden, seien diese schon existent oder erst noch einzurichten. Ursprünglich waren die zehn Punkte als Leitlinien für (weitere) zivile Reformen in lateinamerikanischen Ländern gedacht, die sich erst kurz zuvor von den bis in die 1980er Jahre andauernden Militärregierungen befreit hatten. Nach dem Mauerfall wurden sie allerdings auch dankbar als Handreichungen für Reformen in Osteuropa, Russland und Zentralasien übernommen[6].
Gewissermaßen rechtzeitig zur Erhöhung des Reformdrucks erschien 1994 außerdem eines der einflussreichsten jemals von der Weltbank veröffentlichten Bücher. Es beschrieb Reformoptionen für Alterssicherungssysteme, die sich mit dem Washington Consensus in völligem Einklang befanden und trug, in freier Übersetzung, den Titel: Wie man die Alterungskrise abwendet. Politikempfehlungen, die Renten zu sichern und gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum zu fördern.[7] Dieses Buch schien quasi der Stein der Weisen zu sein, den alle Finanzminister angesichts des „demografischen Menetekels“ herbeiwünschten. Nur zu bereitwillig nahmen besonders die politischen Entscheidungsträger in Lateinamerika, in Osteuropa, aber auch in Asien und teilweise in Afrika die mit der Veröffentlichung einhergehende Beratungsoffensive der Weltbank und ihrer Apologeten an. Nur übersahen sie dabei sowohl die sozialpolitische Blindheit als auch die ökonomischen Irrtümer des angepriesenen Ansatzes.
Das Alterssicherungskonzept der Weltbank bestand damals, zusammengefasst, aus einem Dreisäulenmodell[8]:
- eine Grundsicherung (umlagefinanziert aus niedrigen Beitragssätzen oder aus Steuern),
- eine dominante, obligatorische kapitalgedeckte Säule, von privaten Unternehmen im Wettbewerb angeboten, und
- eine steuerbegünstigte Säule, die freiwillige Spar- oder Versicherungsverträge umfasst.
Das Modell könnte sozusagen fomuliert werden als: „weg von Bismarck, stattdessen Grundrente plus Riester obligatorisch für alle“.
Die gleichzeitig boomenden Kapitalmärkte taten das Ihre, das Konzept zu beflügeln, indem sie insbesondere die Einrichtung der kapitalgedeckten Säule (auf dem Papier) quasi zum Selbstläufer machten – wer bei angenommenen 8 Prozent jährlichem Ertrag über 40 Versicherungsjahre hinweg nicht mitmachte, konnte leicht des Arbeiterverrats verdächtigt werden.
Der Verkaufstrick der Weltbank bestand in dem Argument, man könne mit einer ihrem Modell entsprechenden Rentenreform simultan Wachstum generieren. Denn an Wachstum waren die notleidenden Länder Südamerikas und Osteuropas interessiert – nur auf die Idee, dieses über Rentenpolitik zu generieren, waren sie bis dato noch nicht gekommen.
Auf den Kern reduziert, lautete die Argumentation der Weltbank wie folgt: Gesamtwirtschaftliches Wachstum bleibt aus, wenn Realkapital fehlt. Man beschaffe also Finanzkapital durch staatlich verordnetes Altersvorsorgesparen. Das steigende Angebot an Finanzkapital erzeugt steigende Nachfrage nach Realkapital. Dadurch kommt ein gesamtwirtschaftlicher Wachstumsprozess zustande, der dem ganzen Land und seinen Handelspartnern dient. Auf wundersame Weise dient derselbe Sparprozess aber auch den Alterseinkommensinteressen der Bevölkerung, denn das angesparte Finanzkapital wird im Rentenalter ausgezahlt und kann für den Konsum verwendet werden, der mit Hilfe des inzwischen aufgebauten Realkapitalstocks produziert wird.
Diese Deduktion erschien so einfach wie logisch und stieß daher in vielen kapitalarmen Ländern auf offene Ohren. Rentenversicherung ist ja, hat man ihre Kohortendynamik einmal verstanden, eine ziemlich einfache Angelegenheit. So musste bei vielen finanz- und sozialpolitischen Entscheidungsträgern der falsche und für die Sozialpolitik fatale Eindruck entstehen, ihnen stünde ein überschaubares und sicher handhabbares Instrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe langfristig erfolgreiche Wirtschaftspolitik sichergestellt werden könne. Man glaubte tatsächlich, der Stummelschwanz Rentenversicherung könne zum Wohle aller mit dem Hund Volkswirtschaft wedeln.
Zum Verkaufserfolg der Weltbank trug außerdem eine technologische Erfindung bei: das von Bill Gates erfundene Disc-Operating-System. Der Siegeszug des PC ermöglichte der ökonomischen Profession bald leichten Zugang zu eigenen demographischen Projektionsrechnungen, was bis dahin aus Sicht der Ökonomik eher eine Nischenwissenschaft war. Mit Hilfe dieser Rechnungen konnten künftige Alterssicherungskosten dramatisiert und darüber hinaus auch noch so dargestellt werden („Erwartungsbildung“), als seien sie schon heute virulent: Einer staunenden Öffentlichkeit wurde erzählt, dass die künftigen Rentenzahlungen aus Umlagesystemen eine kaum fassbar hohe Staatsschuld bedeuteten. Wenn aber, so die Schlussfolgerung, die Alterssicherung schon teuer ist, dann soll sie doch bitte so reformiert werden, dass sie selbst maximal zu künftiger ökonomischer Prosperität beiträgt, statt von dieser abzuhängen.
Und so wurde die Kapitaldeckung zum Kern der Reformagenda – die Finanzmärkte kamen ins Spiel. Die Weltbank entwickelte ihr PROST-Modell[9], mit dem sie Entscheidungsträgern weltweit in vielfältiger Parametervariation zeigen konnte, welche Kosten auf die öffentlichen Haushalte ohne Rentenreformen zukommen würden. Die internationale Wirkung von Influencern wie Axel Börsch-Supan, Bernd Raffelhüschen oder Bert Rürup kann in diesem Zusammenhang kaum überschätzt werden.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), stark beeinflusst von der Praxis des Kanadischen pension-monitoring[10], bediente sich im Prinzip des gleichen Methodenbaukastens. Sie unterschied sich in ihren Reformvorschlägen aber immerhin dahingehend, dass sie grundsätzlich keine Privatisierung zuließ.[11] Allerdings war für die ILO auch die Subventionierung einer defizitären Rentenversicherung aus allgemeinen Steuermitteln tabu – wofür es in Ländern mit großen informellen Sektoren gute Gründe der Verteilungsgerechtigkeit gibt.
Damit verordnete sich die Organisation bei der Suche nach Spielräumen parametrischer Reformen aber selbst Grenzen. So führte der gleiche Methodenbaukasten bei seiner Anwendung auf die öffentlichen Rentensysteme zu gleichen Schlussfolgerungen: Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters und Abschaffung von Frühverrentungsoptionen, Trimmung der Rentenformel, Erhöhung der Beiträge – kurz: Senkung der Leistungen bei Erhöhung der (nur aus Löhnen zu finanzierenden) Einnahmen. Und so verprellte die ILO bei der Präsentation ihrer Berechnungen und Vorschläge manchmal Gewerkschaften und Arbeitgeber gleichzeitig und ließ Regierungen ratlos zurück. Obgleich ungewollt, trug auch die ILO zum allgemeinen Abbau des Vertrauens in die öffentlichen Sozialversicherungssysteme bei.
Ignorierte Warnungen: Reaktionen auf das Scheitern neoliberaler Sozialpolitik
Selbstverständlich warnten nicht nur viele Praktiker aus Politik, Sozialversicherungen und anderen Institutionen vor den negativen Folgen der neoliberalen Reformpolitik. Sie wiesen insbesondere darauf hin, dass der Begriff der Nachhaltigkeit sich nicht primär auf die Finanzen sozialer Sicherung, sondern auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz beziehen muss. Ein soziales Sicherungssystem, das nichts mehr leistet, verliert die Loyalität seiner Mitglieder.
Aber diese Reaktionen waren unkoordiniert und oft genug auch unsystematisch-diffus. Dies lag nicht zuletzt daran, dass viele sozialpolitisch Engagierte sich verführen ließen, Sozialpolitik als „investment in people“ zu verstehen und dieses Verständnis wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Man glaubte, das Soziale retten zu können, wenn man die Sprache und Argumentation seiner Gegner benutzte und gewissermaßen gegen sie wendete. Damit waren die „investment in people“-Aktivisten allerdings in eine Falle getappt, aus der sie sich bis heute kaum mehr selbst befreien können. Denn wer eine Investition tätigt, erwartet daraus einen Ertrag. Eine Erwartung, die bald massiv auf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zurückfallen sollte – diese waren jetzt aufgefordert „zu liefern“.
Versuche, dem Weltbank-Buch von 1994 etwas vergleichbar Attraktives entgegenzusetzen, misslangen.[12] International bekannte Ökonomen wie Joseph Stiglitz, von 1997-2000 Chefökonom der Weltbank, Paul Krugman oder Nicholas Barr, die sich gelegentlich gegen die neue Orthodoxie stellten, konnten dem Mainstream wenig bis nichts anhaben. Mit sozialpolitischen Konzeptionen des europäischen „Festlands“, die ja ein Jahrhundert lang durchaus erfolgreich waren – auch international –, konnten sie ohnehin nicht viel anfangen.
Europa wiederum, ganz mit sich selbst und der Vorbereitung auf den Euro beschäftigt, erkannte nicht, welche Gefahr für sein eigenes Sozialmodell von den paradigmatischen Änderungen „draußen“ ausging.[13] Und schließlich: Nachdem Schweden zu einem der Vorreiter neoliberaler Rentenreformen geworden war (dies zudem anspruchsvoll-raffiniert und administrativ kaum kopierbar) – wie konnte etwas sozialpolitisch fragwürdig sein, wenn es das weltweit sozialste Land für richtig hielt?
Theoretisch-intellektuell war dem Angriff der Weltbank also schlecht beizukommen.[14] Um tatsächlich feststellen zu können, dass mit und nach diesen Reformen etwas schiefging, musste Zeit ins Land gehen.
Die ersten systematischen Hinweise kamen ausgerechnet aus den Reihen des neoliberalen Mainstreams selbst. Das Weltbank-Büro für Latein-Amerika war in einem internen Bericht Mitte der 2000er Jahre – also etwa eine Dekade nach der 1994er-Publikation – zu dem Ergebnis gekommen, die Vorgänge in Argentinien hätten das Alterssicherungskonzept auf dem lateinamerikanischen Kontinent so unglaubwürdig gemacht, dass es sich davon für mindestens eine Generation nicht erholen würde. Was war passiert? Die argentinische Regierung hatte die Staatsschulden krisenbedingt um mehr als zwei Drittel abgeschrieben – und damit die Beitragzahler ihres mühsam angesparten „Rentenvermögens“ beraubt.
Ein späterer offizieller Prüfbericht[15] war sprachlich moderater, in der Sache allerdings ein fast kompletter Verriss der von der Weltbank empfohlenen Politik. In Folge wurden die Finanzmärkte zwar gestärkt und die sogenannte implizite Rentenschuld drastisch reduziert (was selbstverständlich einer ebenso drastischen Reduktion künftiger Leistungen entspricht), trotzdem wurde praktisch keines der unmittelbaren sozialpolitischen Reformziele erreicht. Die erwarteten positiven Arbeitsmarkteffekte blieben aus – eine wegen der privatwirtschaftlichen „Anreize“ erwartete Erhöhung der Mitgliederzahl in sozialen Sicherungssystemen war kaum messbar. Auch die erwartete Verminderung der Verwaltungskosten drehte sich ins Gegenteil: Der oligopolistische „Wettbewerb“ zwischen den privatisierten Rentenversicherungen führte zu Verwaltungskosten von durchschnittlich einem Viertel – in manchen Fällen von ca. 50 Prozent und mehr – der eingezahlten Beiträge. „This has meant high profits for the fund managers.“ Und: „[Fund] profit rates skyrocketed“.
In Osteuropa und Zentralasien wurde die Wahrnehmung des Scheiterns der Rentenreformen zunächst von den großen wirtschaftlichen Problemen überlagert, die sich aus dem Zusammenbruch ganzer Industrien und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit und (Hyper-)Inflation ergaben. Die Reformmängel wurden schließlich aber auch dort sichtbar, was später zu den im Westen „populistisch“ genannten Re-Reformen etwa in Polen führte.[16] In vielen dieser Länder wird, wenn alles gut geht, eine überproportionale Ausweitung der Sozialhilfehaushalte künftig dennoch nicht zu vermeiden sein. Andernfalls wird absolute Altersarmut dramatisch zunehmen.
Für Großbritannien hatte zu Beginn der 2000er eine Regierungskommission bereits gewarnt, dass mindestens 75 Prozent derjenigen, die in private Anlageprodukte investiert hatten, nicht genug Rücklagen haben würden, um sich damit im Alter eine angemessene Annuität kaufen zu können.[17] Sogar die Confederation of British Industry forderte eine Anhebung der Mindestrenten, selbst unter Inkaufnahme möglicher Steuererhöhungen.[18]
Auch in Westeuropa war dies perspektivisch längst alles angelegt, wie zuletzt u.a. durch einschlägige Berechnungen der OECD[19] international dokumentiert wurde.
Die in den USA von Präsident Bush 2005 vorgeschlagene langfristige Minimalisierung der staatlichen Rentenversicherung zugunsten einer kapitalgedeckten, privaten zweiten Säule kam nicht zustande. Seine Absicht wurde von der Öffentlichkeit als Versuch durchschaut, ohne rentenpolitische Not die Interessen der Finanzindustrie zu bedienen.
In Asien (ohne Japan) trafen mehr schlecht als recht funktionierende, teilweise aus sozialistischer Zeit herübergerettete Umlagesysteme mit lange bestehenden öffentlichen, kapitalgedeckten provident funds zusammen.[20] Daraus hätten Regierungen und Weltbank vielleicht etwas Sinnvolles machen können, aber die asiatischen umlagefinanzierten Systeme blieben unterfinanziert und ihre Leistungen liegen nach wie vor meist unter der Armutsschwelle, haben also eigentlich Taschengeldcharakter. Und die provident funds befinden sich in einem zunehmend kritischen Zustand. An diesen Befunden können auch die unbestrittenen sozialpolitischen Fortschritte in Süd-Korea und China nichts ändern.
Immerhin scheint sich bei vielen Entscheidungsträgern die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass soziale Rentenversicherungen notwendig sind, um den Bedingungen kapitalistischer Produktion und den damit einhergehenden Veränderungen moderner Gesellschaften gerecht zu werden. Doch von einer sozialpolitisch inspirierten Reformdynamik kann – vielleicht mit Ausnahme Chinas – nach wie vor keine Rede sein.
China hatte zunächst versucht, sein umlagefinanziertes Rentensystem bei Weiterzahlung kleiner Renten durch ein perspektivisch dominantes System individueller kapitalgedeckter Konten „marktwirtschaftlich“ zu komplettieren. Also Riester in groß. Tatsächlich wären aber auch dort die Transformationskosten ähnlich wie in Lateinamerika (zu) hoch gewesen. Die kapitalgedeckten Konten blieben effektiv leer – die eingehenden Beiträge wurden, sozialpolitisch sehr vernünftig, für die laufenden Rentenzahlungen eingesetzt. Tatsächlich blieb damit alles umlagefinanziert.[21] Mit dem Amtsantritt von Xi Jinping scheint der langjährige Hype um die Kapitaldeckung von Sozialversicherungsrenten in den Hintergrund zu treten. Insoweit könnte in China also sozialpolitische Vernunft einkehren, die vielleicht den Weg eröffnet, soziale Leistungen gegebenenfalls auch diskretionär überproportional zum Wirtschaftswachstum auszuweiten, bis eine dem Entwicklungsstand des Landes angemessene Absicherung der Bevölkerung erreicht ist.
Sozialpolitik als „investment in people“-Falle
Ansätze, zwischen sogenannten produktiven und nicht-produktiven sozialen Leistungen zu unterscheiden, gab es lange. So zum Beispiel im ersten Sozialbudget der Bundesregierung 1968/69[22]. Sozialpolitiker sahen sich immer wieder veranlasst, diese Unterscheidung vorzunehmen, um die Sozialpolitik gegen Angriffe aus „der Wirtschaft“ zu verteidigen.
In der ökonomischen Wachstumstheorie gab es ähnliche angebotstheoretische Ansätze: Der einfache Cobb-Douglas-Ansatz[23] fokussierte bald auf die technologischen Fähigkeiten („skills“) der Beschäftigten – im weitesten Sinne wurde damit das Bildungssystem als notwendiger Input zur Wachstumsgenerierung begriffen. Bis in die jüngste Zeit hat das zu durchaus interessanten Ergebnissen in Bezug auf den Zusammenhang von („heutiger“) Bildung (gestützt von gleichzeitig gezahlten sozialen Leistungen) und („späterem“) Einkommen von definierten Bevölkerungskohorten geführt.[24]
Im Jahr 2004 erschien mit Growing public ein umfangreicher Doppelband des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Peter Lindert, in dem die These vertreten wird, dass die Sozialausgaben entgegen der Intuition vieler Ökonomen und der Ideologie vieler Politiker eher zum Wirtschaftswachstum beigetragen als es behindert haben.[25]
Nun ist zu bedenken, dass sich der Begriff des „Sozialen“ in den USA nicht nur auf Sozialtransfers, sondern auch auf das Bildungssystem erstreckt.[26],[27] Lindert versichert aber, dass er sich in seinem Buch mehr auf Sozialtransfers als auf das Bildungswesen konzentriert und dort zuvorderst auf die grundlegende Hilfe für die Armen.
Damit schränkt er sein Programm erheblich ein und eine Durchsicht des Buches, das im Übrigen ausgesprochen detailreich und lesenswert ist, lässt den Sozialleistungs-Wachstums-Nexus dann doch nicht ganz so prägnant wie angekündigt hervortreten. Von seinen neun Schlussfolgerungen kommen jedenfalls
- sechs zu dem Ergebnis, dass die gesamtwirtschaftliche Sozialleistungsquote bis vor dem Zweiten Weltkrieg stark von der „political voice“ (der Bevölkerung oder Teilen davon) abhing;
- eine zu dem Ergebnis, dass sich Steuern und Sozialleistungen in ihren Netto-Kosteneffekten zu Null addieren und daher keine negativen Wirkungen auf das BIP-Wachstum haben, und
- nur zwei zu einem positiven Zusammenhang zwischen sozialen Leistungen (als Input) und Wachstum (als Ergebnis).
Aus Sicht vieler Sozialpolitiker handelt es sich bei diesen Schlussfolgerungen dennoch um einen entscheidenden Durchbruch darin, „das Soziale“ mit in der Mainstream-Ökonomik entwickelten Methoden und Argumenten gegen Angriffe aus derselben Ökonomik heraus zu verteidigen und das Soziale dem Standardkanon reiner angebotstheoretischer Lehre hinzuzufügen. Das Motto lautet: Schlagt die Gegner mit ihren eigenen Waffen! Die Sozialpolitik hatte ja immer schon argumentiert, Gesundheitsleistungen, Arbeitsschutz, Rehabilitationsmaßnahmen und anderes mehr – also eine ganze Liste sozialer Sachleistungen – hätten produktivitätserhaltende oder sogar -steigernde Wirkungen. Nun bekamen zusätzlich auch die reinen Geldtransfers den Segen der etablierten Ökonomik, wodurch die Rede von Sozialpolitik als „Investition in Menschen“ („investment in people“) endgültig und umfassend legitimiert wurde – seit den 1990er Jahren findet sich dieser Ausdruck zunehmend in der einschlägigen internationalen Literatur.
Zu spät (eigentlich: bis heute nicht) wurde erkannt, dass es sich bei diesem Durchbruch um einen Pyrrhussieg handelte, denn er öffnete neoliberalen Herangehensweisen an die Sozialpolitik zusätzliche Türen und Tore. Wenn Sozialpolitik selbst sich als integraler Teil aktiver Wachstumspolitik versteht, dann ist die Zusammenlegung von Wirtschafts- und Arbeitsministerien nur ein nächster logischer Schritt. Dann ist die Durchforstung aller Sozialgesetzgebung mit dem Ziel der Streichung aller wirtschaftsbehindernden Paragraphen geboten. Jegliche Vorstellung, dass in Marktwirtschaften die produktivitätssteigernde Wirkung von Sozialpolitik eben nicht aus ihrer marktangepassten Stromlinienform kommt, sondern, im Gegenteil, aus ihrer permanenten „Reibung“ mit dem Markt, wurde damit aufgegeben. Der „Sieg“ an der theoretischen Front wurde erkauft durch die endgültige Fügung des Sozialen in die Logik neoliberaler Ökonomik.[28]
Von hier aus war es dem neoliberalen Mainstream dann auch ein Leichtes, den Begriff des Sozialen als „Investition in Menschen“ für seine Zwecke umzudeuten – ein Unterfangen, dem die längst geschwächte Sozialpolitik kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte. Investitionen sind mit Erträgen konnotiert und so war es bis zum Fördern und Fordern nur noch ein kleiner Schritt.
Kaum ein europäischer Mainstream-Sozialpolitiker hätte sich vorstellen können, dass es dadurch unvermeidlich zu der Pönalisierung des Sozialen kommen würde, wie wir sie nunmehr seit Jahren beobachten. Keiner ahnte, dass mit der Einfügung des Sozialen in das Wirtschaftliche auf dem europäischen Kontinent erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder das ferne Glöcklein der Poor Laws von 1597/1601 bzw. 1834[29] mit seinen gesellschaftlichen Obszönitäten zu hören sein würde.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Themenheft „Grenzenlose Freiheit – Hält die Globalisierung ihr Versprechen?“