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National Health Service – Ende eines Mythos

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Sabine Beppler-Spahl ist Diplom-Volkswirtin, Deutschlandkorrespondentin des britischen Online-Magazins spiked sowie Vorsitzende des Vereins Freiblickinstitut. Im März 2019 erschien ihr Buch, Brexit- Demokratischer Aufbruch in Großbritannien (Parodos Verlag). Die Überhöhung des NHS durch die Politik ist – nicht erst seit Corona – zu einem Problem geworden. Jetzt debattieren die Briten über ein Gesundheitssystem, das seinen Zielen längst nicht mehr gerecht wird. Am 5. Juli feierte das nationale Gesundheitswesen Großbritanniens (NHS) seinen 72. Geburtstag. Die Abendnachrichten zeigten Menschen, die auf der Straße sangen oder klatschten. Im Nordosten fand sogar eine kleine Flugschau statt. Schon in den Monaten zuvor, während der schweren Zeit des Lockdowns, hatten

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Sabine Beppler-Spahl ist Diplom-Volkswirtin, Deutschlandkorrespondentin des britischen Online-Magazins spiked sowie Vorsitzende des Vereins Freiblickinstitut. Im März 2019 erschien ihr Buch, Brexit- Demokratischer Aufbruch in Großbritannien (Parodos Verlag).

Die Überhöhung des NHS durch die Politik ist – nicht erst seit Corona – zu einem Problem geworden. Jetzt debattieren die Briten über ein Gesundheitssystem, das seinen Zielen längst nicht mehr gerecht wird.

Am 5. Juli feierte das nationale Gesundheitswesen Großbritanniens (NHS) seinen 72. Geburtstag. Die Abendnachrichten zeigten Menschen, die auf der Straße sangen oder klatschten. Im Nordosten fand sogar eine kleine Flugschau statt. Schon in den Monaten zuvor, während der schweren Zeit des Lockdowns, hatten Millionen Bürger jeden Donnerstagabend an ihren Fenstern oder Haustüren für ››ihr NHS‹‹ applaudiert.

Erschaffung eines Mythos

Das durch Steuern finanzierte NHS („National Health Service“) beschäftigt über 1,7 Millionen Mitarbeiter und ist ein Relikt des britischen Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit. In einem Land, das spätestens seit der Brexit-Wahl tief gespalten ist, wird es auch wegen seiner als konsensstiftenden Funktion gelobt. So bezeichnete die Financial Times 2018 das NHS als eine der wenigen Institutionen, die das Land noch einigt. Und tatsächlich deuten Umfragen darauf hin, dass eine Mehrheit der Briten zufrieden ist (laut yougov sogar zufriedener als die Deutschen mit ihrem Gesundheitssystem). Diese Zustimmung machte sich die Regierung im März zunutze, als sie mit dem Slogan, ››Bleibt zuhause, schützt das NHS, rettet Leben‹‹ (››Stay home, Protect the NHS, Save lives‹‹), die Menschen aufforderte, die strengen Ausgangsbeschränkungen zu respektieren.

So häufig ist vom NHS als einem ››nationalen Symbol‹‹ gesprochen worden, dass manche in ihm gar eine neue Religion zu erkennen glauben. Das hat auch mit seiner Geschichte zu tun. Etabliert wurde es 1948 von einer Labour-Regierung, die die Unterhauswahlen spektakulär gegen den Kriegspremier Winston Churchill gewonnen hatte. Das staatliche Gesundheitssystems sollte die Bedürfnisse eines jeden erfüllen, kostenlos zur Verfügung stehen und Entscheidungen nicht nach wirtschaftlichen, sondern medizinischen Kriterien treffen. Gesundheit sollte kein Privileg der Reichen mehr sein. Das NHS entstand, wie der Politologe und Sozialist Ralph Miliband in seiner hervorragenden Geschichte der Labour-Partei schrieb, unter dem Druck der Öffentlichkeit: Der Krieg hatte einen ››populären Radikalismus‹‹ geschaffen, der weiterreichte als in den 100 Jahren zuvor.[1]

Zweifel an der Qualität

Doch Mythen haben ihre Grenzen. Und die quasi-religiöse Überhöhung des Systems durch die Politik ist – nicht erst in Zeiten von Corona – zu einem Problem geworden. Kritisiert werden die zum Teil langen Wartezeiten für Routineoperationen und auch die Qualität der Behandlung steht seit einiger Zeit nicht nur glanzvoll da: 2013 veröffentlichte das renommierten Lancet Magazin eine Studie, die ermittelt hatte, dass die Überlebensraten bei manchen Krebserkrankungen in Großbritannien niedriger waren als im europäischen Durchschnitt. Nun kommt noch die hohe Übersterblichkeit in den Frühjahresmonaten dieses Jahres als Folge der Corona-Krise hinzu.

Es sei an der Zeit, das bürokratische steuerfinanzierte System, welches das Land aus der Nachkriegszeit geerbt habe, zu überdenken, schreibt Daniel Johnson, der frühere Deutschlandkorrespondent des Daily Telegraph. Und auch die liberale amerikanische Journalistin Kate Andrews vom Spectator fordert mehr marktwirtschaftliche Elemente.

Doch das NHS ist schon lange keine rein staatliche Institution mehr. In den letzten Dekaden, seit den 90er Jahren, wurden immer mehr Teilbereiche ausgelagert und privatisiert. Die größte Privatisierungswelle erfolgte 2012 unter der konservativ-liberalen Regierung, mit der Verabschiedung des ››Health and Social Care Act‹‹. Zahlreiche Praxen, Pflegeinstitute und Krankhäuser stehen heute unter der Leitung von privaten oder halbstaatlichen Organisationen. Zu ihnen gehören u.a. Virgin Care (das Teil des Virgin Imperiums des Milliardärs Richard Branson ist) sowie Alliance Medical (mit Hauptsitz in Südafrika).

Der Preis der Effizienzsteigerung

Für den Politologen Dr. Lee Jones, der sich seit Jahren mit dem NHS befasst (siehe auch MAKROSKOP), ist die Kritik an der Verstaatlichung und Zentralisierung irreführend. Das NHS sei, ganz im Gegenteil, eine fragmentierte, unüberschaubare Struktur, bei der oft kaum noch klar ist, wer zur Verantwortung gezogen werden kann. Als besonders nachteilig habe sich in der jüngsten Krise erwiesen, dass 2005 auch die Beschaffung von Schutzkleidung im Rahmen der Pandemievorsorge von der damaligen New Labour-Regierung an private Firmen übertragen wurde. Dass sie der Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen waren, zeigte sich in diesem Frühjahr auf tragische Weise: Covid-19 forderte zahlreiche Opfer unter Pflegern und Ärzten, von denen es heißt, sie seien anfänglich nicht ausreichend geschützt gewesen.

Zur Paradoxie des NHS gehört, dass es im internationalen Vergleich als sehr effizient gilt. Noch vor drei Jahren erhielt es in einer Vergleichsstudie des US-Think Tanks Commonwealth Fund den ersten Platz, aus einer Reihe von insgesamt 11 weiteren Gesundheitssystemen anderer Länder (darunter die Schweiz, Schweden, Deutschland usw.). Und tatsächlich überraschen die eher niedrigen Kosten pro Patienten.  Im Jahr 2018 betrugen sie im Schnitt 3.600 Euro (in Deutschland waren es fast 5.000 Euro). Und während Großbritannien 10% seines BIP für die Gesundheitsversorgung ausgab, waren es in Deutschland 11,7%.

Wie auch andere Systeme, hatte das NHS in den letzten Dekaden seine Bettenkapazität drastisch reduziert – auf insgesamt 50% in den letzten 30 Jahren. Im Januar 2020 lag die Auslastung laut Jones bei fast 90%, was die Angst vor einer Überlastung aufgrund von Covid durchaus berechtigt erscheinen ließ.

Covid-19 und der Pflegeheimskandal

Nun sagen Ausgaben nicht alles und auch ein teures System kann schlecht sein. Doch im Falle des NHS hat die Covid-Krise die Schwächen des Systems noch einmal deutlich hervorgehoben. Ein Beispiel ist der oben zitierte Lockdown-Slogan, mit dem das NHS ››geschützt‹‹ werden sollte. Zurecht fragen die Kritiker, ob es nicht wichtiger gewesen wäre, die Menschen zu schützen.

Die Ernsthaftigkeit dieser Frage sieht man an den Todesfällen in den Pflegeheimen, die mindestens ein Viertel der an Covid-19 Gestorbenen ausmacht. Die Geschichte dieser Toten hat das Potential für einen Skandal. Offensichtlich wurden in den frühen Phasen der Krankheit jede Menge älterer Patienten, deren Behandlung nicht als akut eingestuft wurde, aus den Krankenhäusern in die Pflegeheime zurückgeschickt, um Kapazitäten für potentielle Covid-Erkrankte zu schaffen. Da die Patienten nicht vorher auf das Virus getestet wurden, geht man davon aus, dass einige bereits infiziert waren und die Krankheit so – unabsichtlich – in die Heime verschleppt wurde.

Gewiss, Covid-19 hat viele Gesundheitssysteme in der Welt unter Druck gesetzt. Und auch in Großbritannien haben Pfleger und Ärzte viel Einsatz gezeigt. Ihnen galt der Applaus der Bürger. Trotzdem ist es richtig und wichtig, dass im Land eine Debatte über das NHS geführt wird, das seinen ursprünglichen Zielen schon längst nicht mehr gerecht wird.


[1] Miliband, Ralph: Parliamentary Socialism, Monthly Review Press, NY, 1966, S. 272

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