Unter den europäischen Nationen neigt insbesondere Frankreich dazu, Deutschlands Fähigkeiten zu überschätzen und sich selbst am Nachbarn zu messen. Heraus kommt eine grandiose europäische Fehleinschätzung. Der französische Zentralbankpräsident François Villeroy de Galhau hat einen langen Brief an seinen Präsidenten geschrieben, in dem er einen Abriss der wirtschaftlichen Lage Frankreichs gibt und deutlich macht, welche Herausforderungen auf lange Sicht auf die Pariser Politik in Sachen Staatsverschuldung in der Europäischen Währungsunion zukommen. Offensichtlich soll der Brief eine Warnung sein. Zwar gesteht die Banque de France zu, dass es in der Corona-Krise von Seiten der Geld- und der Finanzpolitik notwendig war, antizyklische Maßnahmen in großem Maßstab zu
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Unter den europäischen Nationen neigt insbesondere Frankreich dazu, Deutschlands Fähigkeiten zu überschätzen und sich selbst am Nachbarn zu messen. Heraus kommt eine grandiose europäische Fehleinschätzung.
Der französische Zentralbankpräsident François Villeroy de Galhau hat einen langen Brief an seinen Präsidenten geschrieben, in dem er einen Abriss der wirtschaftlichen Lage Frankreichs gibt und deutlich macht, welche Herausforderungen auf lange Sicht auf die Pariser Politik in Sachen Staatsverschuldung in der Europäischen Währungsunion zukommen.
Offensichtlich soll der Brief eine Warnung sein. Zwar gesteht die Banque de France zu, dass es in der Corona-Krise von Seiten der Geld- und der Finanzpolitik notwendig war, antizyklische Maßnahmen in großem Maßstab zu ergreifen, um einen Absturz der Wirtschaft zu verhindern, aber nach der Krise (ab 2022) sei das gegenteilige Handeln gefordert. Der Staat müsse dann, schreibt Villeroy-Galhau, um die Schulden der Corona-Zeit auf ein Jahrzehnt zu begrenzen, beginnen, die Staatsausgaben zu ››stabilisieren‹‹.
Vergleich mit Deutschland: Wozu?
Wohl um zu verdeutlichen, wie besorgniserregend die Lage der öffentlichen Finanzen Frankreichs schon vor der Corona-Krise war, präsentiert der Präsident der Banque de France ein Schaubild, das einen Vergleich mit Deutschland zeigt, bei dem Frankreich offensichtlich schlecht abschneidet (Abbildung 1 als Original aus dem Brief). Dargestellt sind die öffentlichen Schulden in Prozent des BIP für Frankreich, Deutschland und die EWU insgesamt. Das Bild ist in der Tat sehr aussagekräftig, aber ganz anders als es von den Autoren des Briefes dargestellt wird.
Man erkennt in der Tat, worauf auch die Banque de France hinweist, dass bis zum Ende der Finanzkrise von 2008/2009 die deutschen und die französischen Schulden sich etwa gleichartig entwickelt hatten. Erst ab 2010 ››löst‹‹ sich Frankreich von Deutschland und geht ohne Unterbrechung bergauf, während es Deutschland ››gelingt‹‹, die Verschuldung unter die Schwelle von 60 Prozent zu drücken, die von den Verträgen der EWU gefordert ist. Interessant ist auch, dass die Banque de France glaubt, Deutschland könne nach 2020 seine Verschuldung sofort wieder im gleichen Tempo wie nach 2010 reduzieren, Frankreich aber könne sie nur auf dem sehr hohen Niveau von 120 Prozent stabilisieren.
Gibt es keinen Makroökonomen in der Banque de France?
Man fragt sich, wie eine so bedeutende Institution eine so unsinnige Analyse anstellen und an den Staatspräsidenten schicken kann. Das einzige, was das obige Bild zeigt, ist die altbekannte Tatsache, dass Deutschland seinen gewaltigen Leistungsbilanzüberschuss genutzt hat, um den Staatshaushalt zu konsolidieren.
Sollte der volkswirtschaftlichen Abteilung der Banque de France entgangen sein, dass es einen sehr einfachen und vollkommen unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Staatshaushalt und Leistungsbilanzsaldo in allen Volkswirtschaften der Welt gibt, wenn der gesamte private Sektor (also private Haushalte und Unternehmen zusammen) Netto-Sparer ist? Warum ist eigentlich die staatliche Verschuldung in den USA, dem Musterland des Kapitalismus, nach der Finanzkrise so stark gestiegen? Auch die USA weisen wie Frankreich ein Leistungsbilanzdefizit auf.
Ich hatte vor kurzem darüber geschrieben, dass der Präsident der Deutschen Bundesbank zu den Finanzierungssalden schweigt, obwohl sie von der Bundesbank seit Jahrzehnten berechnet werden. Bei Herrn Weidmann kann man das immerhin nachvollziehen, weil er aus ideologischen Gründen weder über den deutschen Leistungsbilanzüberschuss noch über das Versagen des deutschen Unternehmenssektors reden will. Nur, was hindert seinen französischen Amtskollegen daran, zumindest die Leistungsbilanzüberschüsse bei einem Vergleich mit Deutschland hervorzuheben? Ist es wirklich nur Unwissen?
Die europäischen Schuldenregeln sind passé
Die Finanzierungssalden für Frankreich (Abbildung 2) über einen sehr langen Zeitraum zeigen in allergrößter Klarheit, dass es dem Land nach der Corona-Krise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmöglich sein wird, seine öffentlichen Schulden zu verringern. Weder wird sich an der (ohnehin nicht sehr hohen) Sparquote der privaten Haushalte etwas ändern noch an der Tatsache, dass die französischen Unternehmen nun schon dreißig Jahren nicht mehr das machen, was man von ihnen erwartet, nämlich sich zu verschulden, um zu investieren. Dass die Banque de France angesichts dieses Befundes bei den Unternehmen auch noch die ››ach so hohen‹‹ Bruttoschulden des französischen Unternehmenssektors hervorhebt, ist an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten.
Eine Welt wie die von 1960 bis zum Anfang der achtziger Jahre, als die Unternehmen eindeutig der wichtigste Schuldner waren und der Staat immer wieder mit nur wenig neuen Schulden auskam, ist passé. Sie ist offensichtlich genau so lange Geschichte, wie der Neoliberalismus regiert. Da die Möglichkeiten Frankreichs, einen nennenswerten Umschwung im Außenhandel herbeizuführen und einen Leistungsbilanzüberschuss zu erzielen, derzeit gleich Null sind, bleibt logischerweise auch hier nur der Staat, der die Wirtschaft mit immer neuen Schulden am Leben halten kann.
Und das gilt ganz unabhängig davon, wie hoch der Schuldenstand am Ende der Corona-Krise sein wird. Tröstlich für Frankreich: Auch in Deutschland ist das unvermeidbar. Das wäre mal ein Thema für eine deutsch-französische Initiative. Beide Länder stellen Hand in Hand die europäischen Schuldenregeln fundamental in Frage nach dem Motto: Regeln, denen man nicht folgen kann, muss man auch nicht folgen.