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Prüfungsrelevant: Sinnlosigkeit

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In einer ökonomisierten ökonomischen Bildung werden Inhalte belanglos – gleichzeitig bestätigt das eigene Handeln das Bild des Homo Oeconomicus, der Studenten vermittelt wird. So der Befund einer neuen Studie über die VWL. Die Volkswirtschaftslehre befindet sich zwölf Jahre nach Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch in einer tiefgreifenden Legitimationskrise. Die Ereignisse nach 2008 haben keinen Paradigmenwechsel mit sich gebracht, sie waren aber Anstoß für eine kritische Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften als sozialem Feld. In mehreren Studien wurde untersucht: Welche Netzwerke prägen die Ökonomie, warum kann sie überleben und wie hat sich die Forschung geändert? Im deutschen Sprachraum haben Studierende auch die

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In einer ökonomisierten ökonomischen Bildung werden Inhalte belanglos – gleichzeitig bestätigt das eigene Handeln das Bild des Homo Oeconomicus, der Studenten vermittelt wird. So der Befund einer neuen Studie über die VWL.

Die Volkswirtschaftslehre befindet sich zwölf Jahre nach Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch in einer tiefgreifenden Legitimationskrise. Die Ereignisse nach 2008 haben keinen Paradigmenwechsel mit sich gebracht, sie waren aber Anstoß für eine kritische Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften als sozialem Feld. In mehreren Studien wurde untersucht: Welche Netzwerke prägen die Ökonomie, warum kann sie überleben und wie hat sich die Forschung geändert? Im deutschen Sprachraum haben Studierende auch die Ausbildungsprogramme hinterfragt, am bekanntesten durch das ››Netzwerk Plurale Ökonomik‹‹.

Aber unabhängig von den Inhalten wurde bislang kaum die Perspektive von Studierenden direkt erforscht: Wie erleben sie ihre Ausbildung? Wie erfahren Sie diesen Lebensabschnitt? Zweifeln Sie an den Inhalten? Nehmen sie eine kritische Haltung ein, stimmen sie ihnen zu oder lassen sie das alles passiv über sich ergehen?

Ein Viertel aller deutschen Studenten betroffen

Eine eben erschienene Studie hat genau hier angesetzt. Sie hat Studierende befragt, die die Grundlagenlehrveranstaltungen in Volkswirtschaftslehre in den ersten Semestern besuchen. Dieser Unterricht ist nicht nur für Studierende der Wirtschaftswissenschaften vorgeschrieben, sondern für viele andere Fächer, die nur eine Grundeinführung in das ökonomische Denken vermittelt bekommen, aber keine weitere Vertiefung. Insgesamt handelt es sich um nicht ganz ein Viertel aller an deutschen Hochschulen Immatrikulierten.

In Diskussionen in Kleingruppen wurden Studierenden der Volkswirtschaftslehre nur gefragt: Wie geht es Ihnen bisher im Studium? Wie erfahren Sie Ihr Studium? – und dann ohne weiteres Eingreifen nur festgehalten, was die Studierenden hier äußerten und wohin ihre Diskussion ging. Über welche Einschätzungen gab es in der Gruppe schnell eine Übereinstimmung? Zu welchen Meinungen gab es Einspruch und Widerspruch? Das Ziel war es herauszufinden, ob und welche gemeinsamen Erfahrungsräume über die unterschiedlichen Gruppen hinweg ausfindig gemacht werden können.

Nach 16 Gruppendiskussionen mit VWL-Studierenden an fünf der wichtigsten Studienstandorte im deutschsprachigen Raum (Frankfurt a.M., Mannheim, Köln, Wien, Linz) wurden vier Hauptergebnisse ermittelt.

1. Handeln nach Effizienzkriterien

Die Studierenden bewerten das Studium weniger an den Inhalten als an den Strukturen: Wie sehen die Prüfungsmodalitäten aus, welche Wahloptionen haben Sie? Im Vordergrund stehen organisatorische und formale Fragen, z.B. was ist prüfungsrelevant, was nicht? Wie kann man auf effiziente Weise zu vielen ECTS-Punkten kommen, nach denen das gesamte Studium nach dem Bologna-Prozess umstrukturiert wurde? Die Studierenden der Volkswirtschaftslehre befinden sich hier in einer bemerkenswerten selbstbezüglichen Schleife: Auf der einen Seite lernen sie im Studium, dass Akteure ihr Handeln nach Effizienzkriterien ausrichten (der berühmte Homo Oeconomicus), auf der anderen Seite zwingen sie die Studienstrukturen ihr eigenes Studium effizient zu absolvieren. In dieser (so kann man sagen) ökonomisierten ökonomischen Bildung werden zum einen die Inhalte belanglos – und gleichzeitig bestätigt zum anderen das eigene Handeln den Inhalt der Handlungstheorie, der ihnen vermittelt wird.

2. Formale Modelle stehen im Vordergrund

Die Studierenden sehen es bereits kurz nach Einstieg in das Studium als Normalität oder gar Notwendigkeit an, dass sie in der Volkswirtschaftslehre laufend formale Modelle lernen, d.h. dass hier mathematisch und nicht etwa verbal argumentiert und geforscht wird. Dies wird übereinstimmend als Selbstverständlichkeit berichtet – offensichtlich erfolgt diese Erfahrung so vehement, dass ein Blick auf andere methodische Zugänge nicht aufgetan wird. Vereinzelt wird dieser Aspekt kritisch gesehen, aber nur in Bezug auf Strukturen: z.B. dass so viele Wiederholungen gemacht werden, damit auch alle die mathematischen Grundlagen verstehen – zum geringen Teil auch, dass dadurch im Studium qualitative Inhalte systematisch verdrängt werden.

3. Große Kluft zwischen Studium und Realität

Diese Ergebnisse bedeuten jedoch nicht, dass die Studierenden der Volkswirtschaftslehre ihr Studium unkritisch sehen. Im Gegenteil: Übereinstimmend wird das Studium in einer großen Kluft zu dem gesehen, was sie als Realität der Wirtschaft erachten – überraschend unabhängig davon, ob sich Studierende in kritischen Gruppen engagiert haben oder nicht. Die Mehrzahl der Befragten sieht eine große Kluft zwischen ihrem Studium und dem, was sich in der Welt da draußen abspielt. Ihre Reaktion: sie selbst unternehmen Anstrengungen diese Kluft zu schließen, eine Änderung im Studium, z.B. eine direkte Kritik an den Dozenten wird kaum erwogen. Dies erfolgt in mehreren Ausprägungen:

(a) eine epistemische Kluft: Die Studierenden kritisieren die unrealistischen Vorannahmen der Modelle, die sie lernen müssen, oder auch, dass ihnen im Studium fast kein Hintergrundwissen vermittelt wird – und hoffen, dass dies später im Studium erfolgen wird.

(b) eine praktische Kluft: Die Studierenden sind der Meinung, dass die Studieninhalte wenig Wissen vermitteln, das für einen späteren Beruf brauchbar sei. Sie erachten ihr Studium in hohem Maße als rein formaler Nachweis, um später bestimmte Jobs erlangen zu können.

(c) eine politisch-moralische Kluft: Viele Studierende haben ihr Studium aus einer durchaus idealistischen Haltung gewählt: sie wollen die Strukturen der Wirtschaft verstehen und haben auch ein Anliegen, diese zum Positiven zu verändern. Sie erkennen rasch, dass diese Erwartungen zumindest im Grundstudium nicht erfüllt werden und deuten Studieninhalte als unmoralisch, amoralisch oder ››ideologisch‹‹. Auf diese Diskrepanz reagieren sie mit zwei Strategien. Die Mehrheit der in der Studie vertretenen Personen gibt ihren moralischen Standpunkt nicht auf, kommt aber zum Schluss, ihn vom Studium zu trennen, kritische Reflexionen seien nur außerhalb des Studiums möglich. Eine Minderheit praktiziert eine zweite Strategie: Sie wendet ihre kritische Einstellung zu Aspekten des Wirtschaftssystems gegen das Studium und entwickelt eine fundamentale Kritik an der ökonomischen Bildung, wie sie zur Zeit abläuft.

4. Wie ein Initationsritual

Eine vierte Gemeinsamkeit liegt darin, dass Studierende ihr Studium häufig als zweigeteilt wahrnehmen: Sie erfahren eine Anfangsphase, die sie als rigide, methodenlastig und fremdbestimmt deuten­. Danach würde eine selbstbestimmtere Phase kommen, bei der sie mehr Auswahl hätten, auch der Ausblick auf Praktika und Auslandaufenthalte wird positiv eingeschätzt. Die erste Phase wird von Studierenden als unangenehm, aber als notwendig auf dem Weg ins ››freie‹‹ Hauptstudium interpretiert. Übereinstimmend sprechen sie von großem Stress und belastender Konkurrenz, viele berichten auch von somatischen Symptomen, wie Schlaflosigkeit, vor allen in den Prüfungsphasen am Ende des Semesters. In hohem Maße kommt in den Diskussionen die Erfahrung von Angst zu Tage und in wie hohem Maße sich Studierende einem Druck ausgesetzt fühlen. Diese Erlebnismomente führen zu einer kritischen Einstellung zur ersten Studienphase, auch bei jenen Studierenden, die das Studium prinzipiell verteidigen. Es scheint – so haben die Autoren der Studie das interpretiert – als ob der Anfang des Studiums wie ein Initationsritual erlebt wird, das absolviert werden müsse.

Besorgnis um die Qualität der Ausbildungsprogramme

Fazit: Insgesamt geben die Ergebnisse Anlass zur Besorgnis um die Qualität der Ausbildungsprogramme künftiger Ökonomen. Insbesondere der starke Mathematik- und Methodenfokus in den ersten Semestern wird von Studierenden als regelrechtes Hemmnis ihrer vielfältigen Studienmotivationen wahrgenommen. Anstatt studentische Anliegen ernst zu nehmen und aufzugreifen, sehen sie sich einem rigiden Lernkatalog und einem enormen Belastungsdruck ausgesetzt.

Nicht wenige Studierende beschreiben, wie sie angesichts dessen ihre ökonomischen Fragen und Anliegen aufgeben müssen, um im Wettbewerb mit ihren Kommilitonen bestehen zu können. Die fachwissenschaftlichen Inhalte, dies verdeutlicht der Befund eines Primats der Studienstrukturen, werden aber ihrerseits allenfalls als ein Mittel zum übergeordneten Zweck des Prüfungserfolges gesehen. Eine wirkliche Auseinandersetzung und ein tiefergehendes Verständnis der Hintergründe ökonomischer Theorie verbleibt eine Ausnahme – oder wird in einem begleitenden Selbststudium absolviert. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass die ökonomische Bildung als sinnentleert oder sinnentleerend wahrgenommen wird.

Die Studie ergab einen überraschend kritischen Befund. Die interviewten Studierenden sind in hohem Maße mit dem VWL-Studium unzufrieden, und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter oder Studienstandort. Vereinzelt werden positive Befunde genannt, das bezieht sich aber auf einzelne Dozenten, die engagiert und motivierend unterrichten, oder an besondere infrastrukturelle Bedingungen, wie interaktive Lehrangebote in Onlinekursen. Die kritischen Befunde und negativen Beschreibungen überwiegen.

Gleichwohl zeigt die Studie auch, wie manche Studierende kreative Lösungswege finden, um im Rahmen ihres Studienalltags ihren ursprünglichen Motiven nachgehen zu können. Diese Eindrücke ziehen jene regelmäßig erhobene Aussage in Zweifel, dass Studierende ›ohnehin nur auf einen schnellen Prüfungserfolg aus sind und kein wirkliches Interesse mitbringen‹.

Das heißt: Die multiplen Krisen der Gegenwart einer ökonomisierten Gesellschaft haben auch mit den Inhalten zu tun, mit denen eine gebildete Schicht über die Wirtschaft unterrichtet wird. Es ist Zeit, das Studium der Volkswirtschaftslehre grundlegend zu reformieren. Im Vordergrund sollte der Bezug zu realweltlichen Phänomenen sowie zu den Interessen der Studierenden stehen.

Lukas Bäuerle, Stephan Pühringer, Walter Otto Ötsch: Wirtschaft(lich) studieren: Erfahrungsräume von Studierenden der Wirtschaftswissenschaften
Springer-Verlag, Berlin 2020
218 Seiten, 44,99 Euro

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