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Karlsruhe – ewiger Feind der europäischen Integration

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Dr. Werner Polster ist Politikwissenschaftler und Publizist. Vormals war er als Studiendirektor beim Berliner Bildungssenat tätig. Er betreibt zudem den Blog www.euroordo.eu. Fast drei Jahrzehnte Irrwege der verschiedenen Karlsruher Gerichte haben die EU in eine Sackgasse geführt, aus der es kein Ausweg zu geben scheint. Eine Lösung dieser Verfassungskrise geht nicht ohne Vertragsänderungen. Schon lange hatten das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) institutionelle Existenzängste ob eines Bedeutungsverlustes im Rahmen der Europäisierung umgetrieben. In beachtlichem Maße nahmen sie zu, als die europäische Integration mit den Maastrichter Verträgen den Übergang vom Marktprojekt zum Politikprojekt besiegelte. Der Abstieg vom Obersten Bundesorgan zur dem Europäischen

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Dr. Werner Polster ist Politikwissenschaftler und Publizist. Vormals war er als Studiendirektor beim Berliner Bildungssenat tätig. Er betreibt zudem den Blog www.euroordo.eu.

Fast drei Jahrzehnte Irrwege der verschiedenen Karlsruher Gerichte haben die EU in eine Sackgasse geführt, aus der es kein Ausweg zu geben scheint. Eine Lösung dieser Verfassungskrise geht nicht ohne Vertragsänderungen.

Schon lange hatten das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) institutionelle Existenzängste ob eines Bedeutungsverlustes im Rahmen der Europäisierung umgetrieben. In beachtlichem Maße nahmen sie zu, als die europäische Integration mit den Maastrichter Verträgen den Übergang vom Marktprojekt zum Politikprojekt besiegelte. Der Abstieg vom Obersten Bundesorgan zur dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterworfenen Gerichtsbarkeit nahm konkrete Gestalt an.

Ähnlich erging es der Bundesbank 1992. Nur gegen größte Widerstände hatte die Politik die Währungsbehörde in den Prozess der Herstellung einer europäischen Währungsunion gezwängt. Als es für Widerstand schon fast zu spät war, im September jenes Jahres, setzte die Bundesbank noch einmal zu einer letzten Verzweiflungstat an: Wenige Tage vor dem alles entscheidenden Referendum zu den Maastrichter Verträgen in Frankreich drehte sie in verantwortungsloser Weise an der Zinsschraube – und drohte mit dieser nationalistischen Machtdemonstration das ganze Projekte doch noch zum Scheitern zu bringen.

Die Sache ging bekanntlich gerade noch einmal gut und mit einer äußerst knappen Mehrheit waren die europäischen Verträge gerettet. Seither ist die Bundesbank zwar noch immer keine Verwaltungsstelle im Europäischen System der Zentralbanken (ESZB), aber doch meilenweit von jener Selbstherrlichkeit entfernt, mit der man in den Achtzigern europäische Geldpolitik betrieb.

Die derzeitigen Konstellationen um das Urteil der Karlsruher Richter vom 5. Mai 2020 weisen kaum zu übersehende Parallelen zu jener aus den frühen neunziger Jahren auf. Das Urteil hat das Potential, zum letzten Gefecht der zweiten aus der Demokratie herausgenommenen Institution in Deutschland zu werden. Für das BVerfG ist der Bundesbankmoment gekommen.

Das Maastricht-Urteil (1993)

In der Sache bescheinigte das damalige Gericht den Maastrichter Verträgen Konformität mit dem Grundgesetz, weil man sich doch den geopolitischen Umwälzungen der Jahre 1989/90 aus Karlsruhe nicht entgegenstemmen wollte. In den Begründungen jedoch legte es die Grundlagen, die hinfort für die europäischen Urteile den Tenor vorgaben, und dieser Tenor war durch und durch europafeindlich.

Man erfand zunächst den aus der Abteilung Sperrholz entlehnten Begriff des „Staatenverbunds“, der sich schon sprachlich nur in Nuancen vom einfachen Staatenbund unterscheidet, um die mindere Qualität des europäischen Projekts zu kennzeichnen. Den Begriff „Europäische Union“ qualifizierte man als „Chiffre“. Es folgte eine lineare Legitimationskette, die letztlich darauf hinauslief, dem europäischen Projekt die Demokratisierbarkeit zu bestreiten, weil es eben kein „europäisches Volk“ gebe. Nur die nationalen Parlamente, die Repräsentanten des Staatsvolkes seien, verfügten über die ausreichende Legitimationsbasis.

Das Europäische Parlament, für viele der Hoffnungsträger der Zukunft schlechthin, schnurrte in dieser Sichtweise auf seine ursprüngliche Größe von der Zeit vor 1979 als dekorative, aber machtlose „Parlamentarische Versammlung“ zusammen.

Die zweite Ebene europäischer Souveränität, die sich in Konturen in den Verträgen abzeichnete, wurde einfach ignoriert. Die Unionsorgane agierten nur im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung, verfügten über keinerlei Kompetenz-Kompetenz, insbesondere sei ihnen verwehrt „sich aus eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen“ (Leitsatz 9a).

Für helles Entsetzen, national wie international, sorgte diese Formulierung im Urteil:

Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen (Herv.d.V.) – geistig, sozial und politisch verbindet (…), rechtlichen Ausdruck zu geben.

In einer Zeit, in der in den gerade beginnenden jugoslawischen Bürgerkriegen im Namen „homogener Volksgruppen“, brutale militärische Auseinandersetzungen stattfanden, sah sich das deutsche Verfassungsgericht bemüßigt, einen mehr als problematischen Begriff in seine Rechtsprechung einzuführen.

Der dem Zweiten Senat vorsitzende Richter Paul Kirchhof, später in Merkels prospektiven ersten Kabinett als Finanzminister vorgesehen, machte – entgegen den üblichen Gepflogenheiten von hohen Richtern – auch keinen Hehl aus seinen fundamentalen Überzeugungen, die er in Texten und Reden kundtat: Deutschland und Europa standen für ihn im Gegensatz, Demokratisierungen im europäischen System seien kontraproduktiv und „Tendenzen zu einem Bundesstaat“ grundsätzlich abzulehnen.

Schließlich errichtete man in und mit dem Urteil ein „Kontrollhäuschen“ (Kirchhof), in dem das BVerfG saß, und von dem aus geprüft werde, ob die Dinge, die aus Brüssel eingeschleust werden sollten (europäische Rechtsakte), auch grundgesetzkonform sind oder aus dem Rahmen der europäischen Kompetenz ausbrechen (ultra vires).

Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.

Die Ultra-vires-Kontrolle – neben der „Identitätskontrolle“ (mit dem Maßstab des Grundgesetzes) als zweitem Element der europapolitischen Gerichtstätigkeit – war geboren.

Das Lissabon-Urteil (2009)

Das Lissabon-Urteil folgte dem gleichen Muster wie das Maastricht-Urteil: Das Großgedruckte, der Kern, war von überschaubarem Gehalt, das europapolitisch Wichtige verbarg sich im Kleingedruckten. Karlsruhe urteilte, dass der neue EU-Vertrag grundsätzlich vereinbar sei mit dem Grundgesetz. Moniert und mit entsprechenden Folgen für die Gesetzgebung wurde nur, dass das parlamentarische Begleitgesetz, das die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat regelte, neuzugestalten sei. Im Kleingedruckten ereiferten sich die Richter aber auf sage und schreibe 147 Seiten in europapolitischen Grundsatzfragen (Kompetenzabgrenzung, Europageschichte, Demokratiedefizit), was an sich gar nicht Aufgabe des Gerichts ist und wohl nur belegen sollte, dass man sich beflissen in Grundlagenliteratur und -materie eingearbeitet hatte.

Dem Grundsatz der geteilten Souveränität, die man im Maastricht-Urteil noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte, wurde weiter eine Absage erteilt, sie wurde sogar verschärft. Ausgangspunkt war zwar nicht mehr das „harmonisch“ konstituierte Volk, sondern die „staatsangehörigen Bürger“ – das sind diese aber nicht als solche, sondern nur in der Form „souverän bleibender Staaten“.

Der Nationalstaat erhielt also von höchstrichterlicher Seite eine Art Ewigkeitsgarantie und wurde zum Maßstab für jedwede weitere Dynamik in der Europäisierung, die in der Substanz immer eine abgeleitete Größe war. Europa als etwas Eigenes lag – verborgen – jenseits des Vorstellungshorizonts der Richter.

In mancherlei Hinsicht ergänzte man das Urteil zu Maastricht, indem man präzisierte. Das Gericht setzte – ganz nebenbei und ohne Begründung – Schranken der Integration: Als „unantastbarer Kerngehalt“ staatlicher Souveränität galt ihm das Folgende:

„Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten seit jeher Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5).“

Nach dem Motto, was schon immer so war, soll auch immer so bleiben, wurden Politikbereiche, die einer eigenen Dynamik unterliegen und eigenen Funktionslogiken gehorchen, aus der Integrationsmöglichkeit herausgenommen und in nationalstaatlichen Beton gegossen. Vor dem Hintergrund dieser Definition eines erhaltenswerten nationalstaatlichen Souveränitätskerns – vom nationalen Parlament zu gestalten – kann man sich jede Reformdiskussion über die Wirtschaftsunion, über Eurobonds und ein gemeinschaftliches Steuersystem sparen, auch über eine Kompetenzaneignung von Kommission und/oder Parlament in Sachen der Erhebung eigener Steuern und sonstiger Einnahmen. Das Lissabon-Urteil hatte hierzu schon das letzte Wort gesprochen.

Ein Paradebeispiel konstitutioneller Rechtsprechung lieferte das BVerfG in Hinblick auf das europäische Demokratiedefizit. Geradezu genüsslich und darob ausführlich breitete man das in der EU bestehende Demokratiedefizit aus. Kein europäisches Volk, kein richtiges Parlament, keine Regierung, kein Staat usw. usf.

Statt sich aber Gedanken im Sinne der vorgeblichen Europafreundlichkeit über eine Behebung des Demokratiedefizits zu machen, versiegelte man den bestehenden Zustand und deklarierte die Union grundsätzlich für „demokratieunfähig“. Nur konsequent war daher der folgende Satz:

Es ist deshalb beim gegenwärtigen Integrationsstand nicht (Herv.d.Verf.) geboten, das europäische Institutionensystem demokratisch in einer staatsanalogen Weise auszugestalten.

Das hatte alles von einer Unterart des Zirkelschlusses: Die EU darf keine Demokratie werden, denn sonst entstünde etwas Staatsanaloges, und das sei unvereinbar mit dem Grundgesetz. Europäische Staatlichkeit wird gewissermaßen verboten. Der Nationalstaat sei der „volldemokratisch organisierte Mitgliedstaat“ und Letztentscheider der Europäisierung. Europa ist „unvollständig demokratisch“ und daher zu kontrollieren. Hatte man beim Maastricht-Urteil das Thema der geteilten Souveränität noch weitgehend ignoriert, schritt man beim Lissabon-Urteil weiter und befand sie für unerwünscht.

Die Urteile zur Währungsunion (2012 und 2016)

Mit der sogenannten Eurokrise häuften sich die Klagen beim BVerfG enorm, vorgetragen von Europakritikern aller Couleur. Die üblichen Verfahren setzten ein. Klagen, Vorverhandlung, Vorlage beim EuGH, Schlussverhandlung, Urteil. Den Richtern des Zweiten Senats bot sich die Möglichkeit, tiefer in die wirtschaftspolitische Materie einzusteigen – ein Gebiet, das besonders geeignet ist für konstitutionelle Rechtsprechung. Die Urteile zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum so genannten Fiskalpakt (2012) sowie dem OMT-Programm („Outright Monetary Transactions“) (2016) stechen hervor.

Der einmal eingetretene Pfad der Messung von europäischem Recht am Grundgesetz (Identitätskontrolle) und der Ultra-vires-Kontrolle wurde weiter ausgetrampelt. ESM und Fiskalpakt widersprächen nicht dem Demokratiegebot (Art. 20), dem Wahlrecht (Art. 39) und der Unabänderlichkeit des Grundgesetzes (Art. 79). Insofern seien beide Gesetzeswerke konform mit dem Grundgesetz. Wer sich wundert darüber, was ESM und Fiskalpakt mit Demokratiegebot, Wahlrecht und Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes zu tun haben, mag sich weiter wundern.

Interessant war aber auch an diesem Urteil der weitläufig ausgeführte Begründungsrahmen. Unter tatkräftiger Beratung der bekannten Ökonomen aus München und Mannheim und des Bundesbankchefs hielt man hier die gesamte entstellende neoliberale Deutung der europäischen Verträge fest. Aufgeschrieben wurden die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft und die Absolutsetzung des Mandats der Preisstabilität der EZB.

Vergessen hatte man den zweiten Teil des Mandats: die Unterstützung der Wirtschaftspolitik, der Haftungsbegriff als Schlüsselbegriff europäischer Integration, das nicht-existente No-Bail-out-Verbot im Lissabon-Vertrag, die Notwendigkeit des Spreads an den Kapitalmärkten usw. usf. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht ausmalen, was kommen wird, wenn die Eurobonds eingeführt werden.

Das OMT-Urteil aus dem Jahr 2016 hatte eine staatsrechtliche und eine wirtschaftspolitische Seite. Es bezog sich auf das von Mario Draghi am 28. Juli 2012 angekündigte („Whatever it takes“) und am 6. September des Jahres spezifizierte OMT-Programm, das die so genannte Eurokrise beendete, ohne dass es je umgesetzt wurde. Geklagt hatten wiederum die Europaskeptiker aus dem Bildungsbürgertum und beanstandeten, dass die EZB ihr Mandat verletzt habe (Kompetenzüberschreitung) und unerlaubte Staatsfinanzierung betreibe. Es ging also um ultra vires, Kompetenzüberschreitung europäischer Organe.

Staatsrechtlich hielt man sich noch einigermaßen an das übliche Procedere, indem man die Bedenken gegen das Programm, die man von Anfang an mit den Klägern teilte, nicht selbständig weiterwob und in ein Urteil münzte, sondern das Verfahren aussetzte und die in Europafragen eigentlich zuständige Instanz, den Europäischen Gerichtshof (EuGH), anrief und ihm Fragen vorlegte. Der befand in seiner Antwort (2015) – fußend auf ausgewogenen Sätzen unter anderem zum Gesamtmandat der EZB (Preisstabilität plus Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Union) –, dass das Programm zum Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten nicht zu beanstanden sei.

Ganz offensichtlich blieben die Zweifel im BVerfG. Man scheute aber an diesem Punkt die „Ultra-vires-Kontrolle“ auf die Spitze zu treiben und bog sich die Antwort des EuGH so zurecht, dass man den Beschwerden nicht stattgab. Die Richter verzichteten aber nicht darauf, schon einmal anzudeuten, dass man – falls sich die EZB nicht an die Vorgaben halten sollte, schließlich sitzen in deren Direktorium und Rat ja alle möglichen dubiosen Gestalten aus Südeuropa – als Verfassungsgericht des Nordens einen Fuß in die Konstruktion der Währungsunion hineinbringt:

Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind…

Schon dieser Satz hätte die Spekulanten an den Anleihemärkten reizen können, noch einmal gegen Papiere aus den Südstaaten zu wetten. Im Übrigen war damit das Pflaster für das PSPP-Urteil gelegt.

Bevor sie die Maßgaben nun auskleideten, haben sich die Richter offensichtlich ein Gläschen Cognac gegönnt und die diesbezüglichen Ausführungen des EuGH so umgedeutet, dass es der neoliberalen Kirche in Deutschland und ihren eigenen Ahnungen einigermaßen gefallen konnte. Mario Draghi hatte – im Sinne des „Whatever-it-takes“ – unbegrenzte Käufe von Staatsanleihen angekündigt und dies in der späteren Spezifizierung bestätigt („no ex ante quantitative limits“). Der EuGH sprach davon, dass das Programm in „gültiger Weise beschlossen wurde, ohne vor seiner Durchführung eine quantitative Beschränkung festzulegen“. Nach dem Gläschen Cognac fertigten die Richter daraus diese Maßnahme:

Das Volumen der Ankäufe ist zu begrenzen.

Die sechs Maßgaben – allesamt zurechtgebogen hin auf Begrenzung und von EZB-Programm und EuGH-Rechtsprechung eklatant abweichend – machten aus „Whatever it takes“ „We play it by ear“, also das Gegenteil dessen, was Draghis Intervention an Strategie unterlag, und hätten den Kapitalmärkten im Sommer 2012 nicht einmal ein müdes Lächeln entlockt. Juristische Formbetrachtung und wirtschaftliche Realität liegen mitunter doch weit auseinander.

Das PSPP-Urteil (2020)

Juristischer Ausgangspunkt des PSPP-Urteils („Public Sector Purchase Programme“) war der Spruch des EuGH zu dem EZB-Programm, den dieser auf Vorabanfrage des BVerfG gefällt hatte (2018). In einem ausgewogenen Urteil kamen die Luxemburger Richter zu dem Schluss, dass sich nichts ergeben habe, „was die Gültigkeit des PSPP beeinträchtigen könnte“, die EZB bleibe im Rahmen ihres Mandats, das Programm gehöre eindeutig in die Währungspolitik und sei auch verhältnismäßig.

Wirtschaftspolitischer Ausgangspunkt war das unter Führung von Mario Draghi 2015 verkündete und durchgeführte PSPP-Programm, das dem in dieser Zeit schwärenden Problem der Deflation in der Eurozone abhelfen sollte, indem die Inflationsrate wieder an das Ziel von annähernd zwei Prozent herangeführt wird.

Die Karlsruher Richter zogen nun „sachkundige Dritte“ – alles ausgewiesene Gegner der EZB und ihrer Politik (zwei Bundesbank-Mitarbeiter, zwei neoliberale Spezialisten und fünf Banken- und einen Versicherungsvertreter) – heran und kamen zu dem Schluss, dass es sich bei dem PSPP-Programm um einen Ultra-vires-Akt handele. Sie wiesen Bundesregierung und Bundestag an, nachträglich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der EZB anzufordern, und untersagten der Bundesbank mit einer Frist von drei Monaten, weiter an dem Programm teilzunehmen. Die EZB hatte auf ein Beisein bei der mündlichen Verhandlung verzichtet, wahrscheinlich weil sie Karlsruhe nicht für zuständig hielt und der EuGH ja gesprochen hatte.

In der Sache selbst wurde das PSPP nicht verworfen. Beanstandet wurde „nur“ die angeblich ausgebliebene Verhältnismäßigkeitsprüfung, also ein Kommunikationsproblem. Angeführt wurden in dem Urteil die wirtschaftspolitischen Auswirkungen auf „Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen“. Mit den Händen zu greifen ist, dass es sich bei der angeblich fehlenden Verhältnismäßigkeitsprüfung (Art. 5 EUV) eher um eine Petitesse handelt. Das Gericht, das schon bei seinem Urteil zum OMT-Programm auf Krawall gebürstet war, wollte offensichtlich auf eine Machtdemonstration, einen Frontalangriff hinaus. Das ist der staatspolitisch-juristische Teil.

Der wirtschaftspolitische Teil des Urteils, der Inhalt, auf den Juristen sich gelegentlich dann doch einlassen müssen, kann in verdeutlichender Sprache so übersetzt werden: Das PSPP-Programm nimmt den Druck von den Südstaaten, ihre Haushalte zu konsolidieren, es beachtet nicht das Grundrecht der deutschen Sparer auf Verzinsung ihrer Guthaben und den maroden Zustand der kränkelnden deutschen Banken, es nimmt nicht Rücksicht auf das Geschäftsfeld der deutschen Lebensversicherer (kapitalgedeckte Lebensversicherungen), es kann den marktwirtschaftlich organisierten Wohnungsmarkt in Deutschland nicht bändigen, und es hält marode Unternehmen im europäischen Süden über Wasser. Die deutschen Zeitungen waren in den letzten Jahren voll von diesen Klagen, und die europäischen Institutionen haben reichlich dazu Stellung bezogen – von wegen fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Der Urteilsspruch bedeutet, dass man von der EZB verlangt, nachträglich zu prüfen, ob die deutschen Sparer ein Grundrecht auf Zins haben, die kränkelnden deutschen Banken nicht höhere Zinseinnahmen verdient haben und der marktwirtschaftlich organisierte deutsche Wohnungsmarkt nicht gebändigt werden könnte. Oder: Kann man die Bekämpfung der Deflation, das erklärte Ziel der EZB, nicht vollständig betreiben, sondern auch nur ein wenig? Und geht es nicht doch, Geldpolitik so zu betreiben, damit sie, fein säuberlich getrennt von Wirtschaftspolitik, so aussieht, wie in den ordo- und neoliberalen Fibeln beschrieben?

Die Zukunft

Der Bedarf des BVerfG lässt sich so zusammenfassen: Auf Antrag der einsichtigen Bundesregierung beschließt der Bundestag, ebenfalls einsichtig, von seinem Weisungsrecht gegenüber der EZB Gebrauch zu machen und von dieser eine Verhältnismäßigkeitsprüfung einzufordern. Frau Lagarde und die Ihren erweisen sich ebenfalls einsichtig und räumen in der Art eines mea culpa ein, dass man bei der Deflationsbekämpfung in der Eurozone einfach vergessen habe, die Interessen der deutschen Sparer, der heruntergekommenen deutschen Banken und die unhaltbaren Zustände in Südeuropa zu beachten, und liefert eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach. Die Bundesbank wäre aus dem Spiel (Leitsätze 9 und 10).

Der nicht unmittelbar betroffene EuGH, auch einsichtig, wiederum räumt ein, dass er hinfort nicht mehr zuständig für eventuelle Rechtsverstöße des Unionsorgans EZB ist und übergibt die Aufgabe in einem feierlichen Akt an Karlsruhe. – Einen solchen Blödsinn können sich die Rotroben in Karlsruhe selbst nach mehreren Gläschen Cognac nicht wirklich ausgedacht haben. Schlussfolgerung: Man hat es offensichtlich auf einen Fundamentalbruch angelegt, also eine Verfassungskrise im europäischen System.

In der kurzfristigen Perspektive sieht die von dem BVerfG herbeigeführte Spielanordnung eine ganze Reihe von höchst charmanten Lösungsmöglichkeiten vor. Lösung Nr. 1: Frau Lagarde beauftragt Herrn Weidmann mit einem Besinnungsaufsatz über die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Programms. Der Bundesbankpräsident müsste Dinge aufschreiben, die ihm so ganz und gar nicht in den Kram passen. Adressat wäre – das BVerfG?

Lösung Nr. 2: Alle Akteure ignorieren das Karlsruher Urteil freundlich. Bundesregierung und Bundestag finden das Karlsruher Ansinnen nicht einleuchtend, die Bundesbank beteiligt sich weiter an den Anleihekäufen.

Lösung Nr. 3: Bundesregierung und Bundestag reagieren im Sinne des Urteils, aber die EZB weigert sich durch Mehrheitsbeschluss, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anzufertigen, weil sie diese durch ihre öffentlichen Stellungnahmen schon längst vorgenommen hat und weil sie das BVerfG für nicht zuständig hält. Die Bundesbank stellt ab 6. August ihre Mitarbeit am PSPP-Programm ein und der Rest des ESZB übernimmt die Ankäufe der Bundesbank. Alles funktioniert wie vorher, die Kapitalmärkte spielen mit, und das BVerfG wäre zufrieden. Wäre es wirklich zufrieden? – Hat man in Karlsruhe diese hier angedeutete Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen?

Die mittelfristige Perspektive sieht das von der Kommission (oder einem Staat) anzustrengende Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 und 259 AEUV) gegen Deutschland vor. Und wo wird über das Vertragsverletzungsverfahren entschieden? In Luxemburg, nicht in Karlsruhe. Es ist nämlich Teil der europäischen Rechtsordnung. Wer eine Murmel (Verhältnismäßigkeitsprüfung) in ein dickes Kanonenrohr legt und ziemlich wahllos mit im Gerichtssaal unpassendem Gegröle („objektiv willkürlich“, „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“) herumschießt – auf Bundesregierung, Bundestag, Bundesbank, EZB, EuGH – und sich zum Büttel kleinkarierter wirtschaftlicher Interessengruppen macht, darf sich nicht wundern, über schlechte Karten vor Gericht zu verfügen. Oder sollte es gar so sein, dass das BVerfG erneut eine Ultra-vires-Klage anhebt und den EuGH eine Kompetenzüberschreitung zeiht? Im gerade aufsteigenden Nebel werden schemenhaft die Konturen eines Circulus vitiosus erkennbar.

Die langfristige Perspektive: Im Rahmen der Lösung dieser Verfassungskrise – die wahrscheinlich nicht ohne Vertragsänderungen vonstattengehen wird – wären drei Reformen im europäischen (und deutschen) Rechtssystem vorzunehmen:

1.) Die Ultra-vires-Kontrolle geht – der Logik des Solange-II-Urteils (1986) folgend – vollständig an den EuGH über. Die Logik der europabezogenen Rechtsprechung des BVerfG wäre gebrochen. Nicht mehr der Nationalstaat ist Ausgangspunkt, sondern das System der geteilten Souveränität. Dem BVerfG bliebe die Identitätskontrolle.

2.) Eine nationalstaatliche Kontrolle von Teilen des ESZB wird in der Zukunft ausgeschlossen, d.h. die Bundesbank unterliegt nicht mehr der Rechtsprechung des BVerfG. Die Währungsunion wäre durchgreifend europäisiert und ein Konstruktionsfehler beseitigt.

3.) Dem dynamischen Charakter der Europäisierung wird Rechnung getragen, und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht als Schraubstock gegen die weitere Integration in Anschlag gebracht. Hierüber könnten die „Herren der Verträge“ im Europäischen Rat politisch wachen.

Der Bundesbankmoment für das deutsche Verfassungsgericht ist gekommen. Fast drei Jahrzehnte Irrwege der verschiedenen Karlsruher Gerichte haben in eine Sackgasse geführt, aus der es, nach allem, was man hört, keinen Ausweg gibt. Für einen Fall kann es nur ein Gericht geben. Der Grundsatz der geteilten Souveränität bedeutet im europäischen Gesamtsystem, dass die Alleinzuständigkeit für Europarecht bei dem EuGH liegt. Daraus folgt, dass die Ultra-vires-Kontrolle nach Luxemburg wandert.

Das Gericht in Karlsruhe fügt sich dann als eines unter vielen nationalen Verfassungsgerichten in das europäische System der geteilten Souveränität ein.

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