Nils Rieckmann studierte Politikwissenschaft in Göttingen. Als freier Journalist veröffentlicht er primär zu wirtschaftspolitischen Themen, wobei er sein Interessengebiet der politischen Theorie immer wieder einfließen lässt. Die Corona-Warn-App der Bundesregierung ist nur ein kleiner Beitrag im Kampf gegen das Virus – dabei wäre so viel mehr möglich. Ist unsere Grundrechtsabwägung wirklich die Richtige? Über 15 Millionen Downloads.[1] Und im britischen Parlament wird sie als glorreiches Beispiel einer Kontaktverfolgungs Applikation erwähnt. Die Rede ist von der Corona Warn App der Bundesregierung. Sie soll helfen Infektionsketten nachzuverfolgen, um die Kurve der Sars-Cov-2 Ansteckungen weiter unter Kontrolle zu halten. Doch um das Grundrecht auf informationelle
Topics:
Nils Rieckmann considers the following as important: Corona-Krise
This could be interesting, too:
Rainer Fischbach writes Politische Frivolität und zivilisatorische Hybris
Alexander Leipold writes Corona und das Erbe unbewältigter Krisen
Rainer Fischbach writes Die Immunitätsillusion
Dirk Bezemer writes Verschlimmbesserungen
Nils Rieckmann studierte Politikwissenschaft in Göttingen. Als freier Journalist veröffentlicht er primär zu wirtschaftspolitischen Themen, wobei er sein Interessengebiet der politischen Theorie immer wieder einfließen lässt.
Die Corona-Warn-App der Bundesregierung ist nur ein kleiner Beitrag im Kampf gegen das Virus – dabei wäre so viel mehr möglich. Ist unsere Grundrechtsabwägung wirklich die Richtige?
Über 15 Millionen Downloads.[1] Und im britischen Parlament wird sie als glorreiches Beispiel einer Kontaktverfolgungs Applikation erwähnt. Die Rede ist von der Corona Warn App der Bundesregierung. Sie soll helfen Infektionsketten nachzuverfolgen, um die Kurve der Sars-Cov-2 Ansteckungen weiter unter Kontrolle zu halten.
Doch um das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vor einem massiven Eingriff zu schützen, bleibt die App nur ein kleiner Beitrag im Kampf gegen das Virus – dabei wäre so viel mehr möglich. Ist unsere Grundrechtsabwägung wirklich die Richtige?
Boris Johnson: ››Mr. Speaker. I wonder wether … the gentlemen can name a single country in the world, that has a functional contact tracing app?!‹‹
Keir Starmer: ››Germany, 12 million downloads. I checked that overnight.‹‹[2]
Laut Angaben des INDEPENDENT hat nun die Regierung des britische Premierministers Boris Johnson über die deutsche Botschaft in London die deutsche Bundesregierung um Hilfe gebeten, um eine gleichwertige Applikation auf die Beine zu stellen.
Die Bundesregierung will so die ››Infektionsketten schneller unterbrechen‹‹.[3] In Anbetracht, dass jede gesellschaftliche und wirtschaftliche Einschränkung wegen Corona – insbesondere jeder lokale Lockdown – Arbeitsplätze, Geld und Lebensfreude kosten kann, handelt es sich grundsätzlich um einen sinnhaften Versuch, auf moderne, digitale Weise, dem Virus Herr zu werden.
Die App ist so konstruiert, dass kein zentralisiert gespeichertes GPS Tracking stattfindet, sondern ein Bluetooth Erkennungssystem mit dezentraler Datenspeicherung arbeitet. Somit entsteht kein gläsernes Überwachungsprofil des Nutzers, welches staatliche Behörden missbrauchen oder gebrauchen könnten. Sogar der Chaos Computer Club, in Form von Linus Neumann, zeigt sich in der Tagesschau zufrieden mit der Umsetzung.[4]
Auch der Virologe und Berater der Bundesregierung Christian Drosten von der Charite Berlin hält die App für eine große Hilfe:
››Wir müssen gerade bei den aktuell niedrigen Inzidenzen ein ganz besonders gutes Kontakt-Tracing machen. Das ist jetzt unsere Maßgabe, dass wir, während wir allgemeine Maßnahmen lockern, über Kontakt-Tracing einen guten Effekt erzielen können, um die Inzidenz niedrig zu halten. Das sieht man auch an den derzeitigen Meldestatistiken.‹‹[5]
Was möglich wäre…
Nun könnte man meinen, dass Deutschland, als Vorzeigedemokratie, bewiesen habe, wie Grundrechtsschutz und moderne Pandemiebekämpfung Hand in Hand gehen können.
Man kann es auch anders sehen, so wie der politisch-realistische Leuchtturm der Grünen – Boris Palmer:
››Ich hätte mir eine viel stärkere App gewünscht. Eine, die auch GPS einsetzt, verpflichtend ist und per Gesetz direkte Quarantäne anordnet, deren Aufhebung dann manuell überprüft wird, falls es ein Fehlalarm war. Das scheint mir alles viel weniger schlimm als die Freiheitsverluste im Lockdown.‹‹[6]
Die Oxford University hat im April ein epidemiologisches Modell angefertigt, welches die Möglichkeiten der digitalen Kontaktverfolgung im Fall Corona modelliert.[7] Der simple Tenor: Umso mehr Menschen einer Bevölkerung eine Kontaktverfolgungsapp nutzen, umso weniger Infizierte und umso weniger Tote gibt es. Würden 80% einer Bevölkerung die App nutzen, könnte in manchen der aufgestellten Szenarien ein zweiter Lockdown regelrecht ausgeschlossen werden.[8]
Eine Grafik der technology review für ein Szenario, indem infektiöse Kontakte um 20% reduziert werden und 56% der Bevölkerung die App nutzen, zeigt besonders anschaulich welch gigantisches Potential eine Kontaktverfolgungsapp bietet.[9]
Bei einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen in Deutschland ergeben 15 Millionen Downloads gerade einmal 18 Prozent der Bevölkerung. Auch 15 % Nutzer pro Bevölkerung retten bereits leben, aber 15 Millionen Downloads sind leider noch lange nicht 15 Millionen aktive Nutzer. Das Robert Koch Institut arbeitet nun an der Ermittlung der aktiven Nutzer.[10]
Eine Kontaktverfolgungsapp bietet enormes Potential. Doch basiert sie auf Freiwilligkeit, wird dieses Potential nicht abgerufen. Warum eine staatliche Durchsetzung die bessere Wahl ist, soll im Folgenden begründet werden.
Grundrechtsabwägung
Verschiedene Länder haben bereits vor Deutschland eine Kontaktverfolgungsapp eingerichtet. Insbesondere im asiatischen Bereich wird dabei weniger auf Freiwilligkeit und Datenschutz geachtet. Die internationale Anwaltskanzlei Norton Rose Fulbright hat ein umfangreiches Portfolio mit Informationen zu den einzelnen Applikationen angefertigt.[11]
Es ist das Wesen der Politik, mit Zwangsmaßnahmen das Gemeinwohl zu fördern. In einer demokratischen Republik wie Deutschland gibt es definierte Grundrechte, die Abwehrrechte, Leistungsrechte, Gleichheitsrechte und Mitwirkungsrechte darstellen können.[12] Eingriffe in ein Grundrecht des Individuums sind möglich, wenn der Eingriff durch die Verfassung zu rechtfertigen ist. Der Eingriff muss dem Allgemeinwohlverständnis des Grundgesetzes dienen und als Maßnahme verhältnismäßig sein.[13]
Genauso operiert die Bundesregierung mit ihrer Novellierung des Infektionsschutzgesetzes bei ihrem ››massivste[n] kollektive[n] Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik‹‹.[14] Dabei greift sie massiv in verschiedene Grundrechte ein, im Lockdown setzte sie gewisse Grundrechte völlig außer Kraft.
Betroffene Grundrechte mit beispielhaften Einschränkungen/Aussetzungen (Art. 1 Menschenwürde lasse ich außer Acht, weil er extrem viel Interpretationsspielraum zulässt):
- Art. 2 [Allgemeine Handlungsfreiheit; Freiheit der Person; Recht auf Leben] Wenn gewisse Aktivitäten aufgrund des Infektionsrisikos verboten oder nur eingeschränkt erlaubt sind, z.B. Schwimmbadbesuch, Urlaub an Ort X.
- Art. 4 [Glaubens-, gewissens- und Bekenntnisfreiheit] Wenn die Religionsausübung eingeschränkt ist, weil z.B. der Kirchenbesuch nicht möglich ist.
- Art. 7 [Schulwesen] Wenn der Schulunterricht nicht stattfinden kann.
- Art. 8 [Versammlungsfreiheit] Wenn Versammlungen, insbesondere Demonstrationen, Einschränkungen unterliegen oder im Lockdown ganz ausbleiben müssen.
- Art. 9 [Vereinigungs, Koalitionsfreiheit] Wenn Sportvereine ihrem sportlichen Interesse nicht nachgehen können und somit auch ökonomisch ein Fortbestand nicht mehr möglich ist.
- Art. 11 [Freizügigkeit] Wenn die Freizügigkeit im Bundesgebiet eingeschränkt ist.
- Art. 12 [Berufsfreiheit] Wenn die Berufsentscheidung für den Eventbereich nicht mehr durchführbar bzw. weiterführbar ist.
- Art. 14 [Eigentum, Erbrecht, Enteignung] Wenn die eigene Branche stillsteht, sodass das eigene Vermögen ohne Selbstverschuldung abschmilzt.
All diese Grundrechtseinschränkungen haben wir mitgemacht und machen wir teilweise weiterhin mit. Aufgrund des relativ hohen Kapitalstocks der deutschen Volkswirtschaft können wir Kompensationsleistungen über einen gewissen Zeitraum aufrechterhalten. In Indien oder Brasilien dagegen kann die Alternative zum Arbeiten trotz Pandemie das Verhungern bedeuten.
Kritik gab es und vereinzelt bildeten sich auch Demonstrationen gegen die Maßnahmen in Deutschland, aber im Großen und Ganzen trägt die deutsche Bevölkerung die Regierungsstrategie mit. Im internationalen Vergleich erweist sich das deutsche Krisenmanagement auch als relativ erfolgreich.
Käme nun eine per staatlichem Zwang verordnete App ins Spiel, dürfte der Aufschrei groß sein. Für Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung ein Horror Szenario:
››Wenn ich mir vorstelle, dass die Daten aus der Anti-Corona-App und die Gesundheitsdaten aus Fitnesstrackern und Smartwatches zusammengeschaltet und kombiniert werden – dann steigt meine Herzfrequenz. Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns, dass das Virus nicht die Kraft hat, Staat und Gesellschaft auf falsche Wege zu führen.‹‹
Eine überwachende und vorgeschriebene App würde in der Tat massiv in Art. 2 des GGs eingreifen. Im Kern wäre das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen, welches das Bundesverfassungsgericht in Art. 2 hineinentwickelt hat.[15]
Ohne diesen potentiellen, massiven Grundrechtseingriff kleinzureden, sollte dennoch eine Abwägung der verschiedenen Grundrechtseingriffe vorgenommen werden. Sollte das Modell der Oxford Universität der Wahrheit entsprechen, so könnte eine App, die Art. 2 des GGs verletzt, einen Berg an anderen Grundrechtsverletzungen unnötig machen.
Die Pandemie zwingt uns zu Grundrechtseingriffen, auch in Zukunft werden wir nicht darum herum kommen. Auch im reichen Deutschland ist das mit gewissen Entbehrungen verbunden. Irgendjemand muss leiden, ein anderer seinen derzeitigen Job verlieren oder sein liebstes Hobby nicht weiter ausführen können. Eine Abwägung der Grundrechtseingriffe wie im folgenden Schaubild wäre hier geboten.
Im Großen und Ganzen gilt: Der Schaden, das Leid, die Grundrechtseingriffe müssen so minimal wie möglich gehalten werden. Eine App für alle bietet die ultimative Gelegenheit dazu. Zu vermuten steht, dass unter den 15 Millionen Downloadern primär die Personen befinden, die sich sowieso an die Corona Regeln halten. Umso mehr ist fraglich, ob ›laissez-faire‹‹ an dieser Stelle der richtige Weg ist.