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Wirecard – die Große Blamage

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Wolfgang Seelig hat keine Wirtschaftswissenschaften studiert, aber gelernt, kritisch und eigenständig zu denken. Er ist der Gründer des Makroskop-Gesprächskreises in Heidelberg. Mit der Bilanzprüfung des DAX-Konzerns Wirecard soll nur ein einziger Mitarbeiter betraut worden sein. Mittlerweile wird klar, dass auch andere Teile des deutschen Nachtwächter-Staates in der Causa Wirecard geschlafen haben. Im deutschem Aktienindex DAX gab es gerade einmal zwei Softwareunternehmen: SAP und Wirecard. Übriggeblieben ist im Juni 2020 nur noch die SAP. Das zeigt, wie wenig die viertgrößte Wirtschaftsnation in Sachen Digitalisierung in der modernen Welt mitspielt. Und selbst Wirecard konnte offensichtlich in der Oberliga der deutschen Aktiengesellschaften nur durch Betrug

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Wolfgang Seelig hat keine Wirtschaftswissenschaften studiert, aber gelernt, kritisch und eigenständig zu denken. Er ist der Gründer des Makroskop-Gesprächskreises in Heidelberg.

Mit der Bilanzprüfung des DAX-Konzerns Wirecard soll nur ein einziger Mitarbeiter betraut worden sein. Mittlerweile wird klar, dass auch andere Teile des deutschen Nachtwächter-Staates in der Causa Wirecard geschlafen haben.

Im deutschem Aktienindex DAX gab es gerade einmal zwei Softwareunternehmen: SAP und Wirecard. Übriggeblieben ist im Juni 2020 nur noch die SAP. Das zeigt, wie wenig die viertgrößte Wirtschaftsnation in Sachen Digitalisierung in der modernen Welt mitspielt. Und selbst Wirecard konnte offensichtlich in der Oberliga der deutschen Aktiengesellschaften nur durch Betrug mitmischen. Eine Blamage für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Dass eines der kapitalstärksten Unternehmen Deutschlands über Jahre bis zu einem Viertel seiner Bilanzsummen nur in Form von Luftbuchungen generieren konnte, ohne dabei entdeckt zu werden, ist eine weitere Blamage.

Nun meldet der Spiegel, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) solle die Bilanzprüfung von Wirecard verschleppt haben. Doch das ist eine falsche, eine irreführende Behauptung. Die BaFin ist – als Teil des von „der Wirtschaft“ gewünschten schlanken Staates – angesichts ihrer umfangreichen Aufgaben dermaßen überfordert und personell unterbesetzt, dass sie solche Prüfungen an die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, die DPR e.V., auslagern musste. Sie war also, wie sie bekannte, nicht zuständig.

Kurioserweise wird die DPR als privater Verein wiederum von Verbänden der Wirtschaft getragen, nicht vom Staat, dessen Aufgabe solche Prüfungen eigentlich wären. Der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), die Banken- und Versicherungsverbände, aber auch der DGB und die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger sind Gründungsmitglieder des DPR. Ein privater Verein mit hoheitlichen Aufgaben!

Genauso kurios: Mit der Bilanzprüfung des DAX-Konzerns Wirecard soll nur ein einziger Mitarbeiter betraut worden sein. Man stelle sich einmal vor, ganze 15 Mitarbeiter sollen jährlich 130 bis 140 Bilanzprüfungen von internationalen Aktienkonzernen durchführen. Seriös prüfen ist da unmöglich.

Dass der DPR von den Aktienunternehmen mittels Umlage entsprechend deren Marktkapitalisierung finanziert wird, ist eigentlich eine gute Idee. Allerdings herrscht auch hier das Dogma des schlanken Staates. Und so wird mittels Unterausstattung ein zahnloser Tiger geschaffen: Die FAZ beklagt, die Prüfung von Wirecard hätte sich 16 Monate hingezogen und so ein schnelles Eingreifen staatlicher Organe verhindert.  In einer Erhebung der Prüfungswirtschaft zum 5-jährigen Bestehen der Prüfstelle äußerten sich die Mehrzahl der befragten Großunternehmen mit den Prüfpraktiken der DPR zufrieden, wünschten sich aber einen noch schnelleren und kundenseitig ressourcenschonenderen Durchlauf. Anders gesagt: Die, die den schlanken Staat gefordert haben, beklagen sich über den schlanken Staat. Das ist genau so frech wie die Fluggesellschaften, die sich über Zeitverzögerungen in der Flugabwicklung beklagten, nachdem man ihren Forderungen nachgekommen war, freiwerdende Stellen bei der Flugsicherung nicht mehr zu besetzen.

Mittlerweile wird klar, dass offensichtlich auch andere Teile des deutschen Nachtwächter-Staates in der Causa Wirecard geschlafen haben.

Wie das Handelsblatt schreibt, soll die Compliance-Abteilung der BayernLB bereits 2018 und 2019 die Wirecard AG der Financial Intelligence Unit des Zolls wegen Verdachts der Geldwäsche gemeldet haben. 2015 habe die Staatsanwaltschaft München im Rahmen der Rechtshilfe für das amerikanische Justizministeriums sogar eine Razzia durchgeführt. Weil aber weder Zoll noch Staatsanwaltschaft angemessen reagierten, haben danach die Landesbank Baden-Württemberg, die Commerzbank, ABN Amro und ING Wirecard Darlehen eingeräumt – und verloren.

Und jetzt?

Zwischenzeitlich hat die BaFin den Vertrag mit dem DPR gekündigt – zum Ende des Jahres 2021. Man fragt sich, warum erst so spät? Warum nicht fristlos? Was neue Fragen aufwirft: Wird erst einmal gar nicht mehr geprüft oder übernimmt das die ohnehin schon personell unterbesetzte BaFin diese Aufgabe, nachdem das Outsourcing an einen Verein gründlich schiefging?

Für solche zusätzlichen Prüfungsaufträge bekäme die BaFin wohl nur dann zusätzliches Personal, wenn woanders personell ein neues Loch aufgerissen wird. Zwar tritt jetzt Finanzminister Wolfgang Scholz auf den Plan und behauptet, er wolle die ihm unterstellte Behörde BaFin nun sowohl rechtlich als auch personell besser ausstatten. Jedoch sind im Lichte der nicht eigelösten Versprechen nach der Finanzkrise alles besser machen zu wollen, auch hier Zweifel angebracht.

All dies zeigt, wie unterfinanziert mittlerweile die öffentliche Daseinsvorsorge in Deutschland geworden ist. Der Begriff der öffentlichen Daseinsvorsorge sei hier bewusst weiter gefasst als nur im Sinne öffentlicher Infrastruktur wie Wasser, Gas und Strom, Verkehr oder Gesundheit – alles Bereiche, aus denen sich der Staat ohnehin schon weit zurückgezogen hat. Nein, es wäre ebenso eine gesamtgesellschaftliche  Aufgabe des Staates, vor Betrug aus der (Finanz)Wirtschaft zu schützen, so wie er für den Schutz der Bevölkerung durch Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Küstenschutz zuständig ist.

Was ist eigentlich mit Ernst and Young (EY), die über Jahre die Bilanzen der Wirecard prüfte? Warum wird diese Firma nicht kritisiert? Heute weiß jeder, dass die Big Four, die großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen PwC, EY, KPMG und Deloitte, gegen den Staat arbeiten. Zu den ursprünglich hoheitlichen Aufgaben der Buch- Bilanz- und Wirtschaftlichkeitsprüfung ist heute vor allem die Beratung in Sachen Steuervermeidung gekommen.

Auch hier stehen einem kleinen Oligopol internationaler Berater-Konzerne – keines der DAX-Unternehmen wird nicht von einem der Big Four betreut – vergleichsweise schwache, lokale, in personeller und rechtlicher Hinsicht unterlegene Finanzämter gegenüber. In diesem Zusammenhang sei nur an die Steuerfahnder-Affäre in Hessen und an Cum/Ex erinnert.

Eine Blamage, das mit Wirecard? Nein, das ganze System ist die Blamage.

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