Dass Sigmar Gabriel kurzzeitig Berater von Tönnies war, hat sein Geschmäckle. Die von ihm einst »angeschobene« freiwillige Selbstkontrolle der Fleischindustrie ist der eigentliche Skandal − und ein beliebtes Konzept deutscher Politikunterlassung. Tönnies hat nichts Verbotenes getan – so schätzte Sigmar Gabriel die Lage ein, nachdem öffentlich bekannt wurde, dass er für einen kurzen Augenblick in Beraterdiensten für den Rheda-Wiedenbrückener Fleischkonzern war. Irgendwie musste er sich ja erklären. Und mit dieser Einschätzung lag er nicht ganz falsch. Natürlich hat Tönnies nichts Unrechtes getan. Was die Sache aber nicht besser macht. Ganz im Gegenteil, es verschlimmert die ganze Angelegenheit nur. Für den ehemaligen Vizekanzler spricht diese Erklärung auch nicht.
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Roberto J. De Lapuente considers the following as important: Fleischkonzern Tönnies, Kommentar
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Dass Sigmar Gabriel kurzzeitig Berater von Tönnies war, hat sein Geschmäckle. Die von ihm einst »angeschobene« freiwillige Selbstkontrolle der Fleischindustrie ist der eigentliche Skandal − und ein beliebtes Konzept deutscher Politikunterlassung.
Tönnies hat nichts Verbotenes getan – so schätzte Sigmar Gabriel die Lage ein, nachdem öffentlich bekannt wurde, dass er für einen kurzen Augenblick in Beraterdiensten für den Rheda-Wiedenbrückener Fleischkonzern war. Irgendwie musste er sich ja erklären. Und mit dieser Einschätzung lag er nicht ganz falsch. Natürlich hat Tönnies nichts Unrechtes getan. Was die Sache aber nicht besser macht.
Ganz im Gegenteil, es verschlimmert die ganze Angelegenheit nur. Für den ehemaligen Vizekanzler spricht diese Erklärung auch nicht. Sie zeigt nur, wie er und damit sein Berufsstand politisch versagt haben.
Tönnies hat nichts falsch gemacht
Es mangelt an Hygiene in der Massenschlachtung. Die Mitarbeiter werden ausgebeutet, mit Werksverträgen in sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse gepresst und müssen abends in großen Gruppen in Schlafunterkünften einrücken. Die Qualität des Fleisches ist zweifelhaft, Lebensmittelkontrollen sind rar und oft sogar ausdrücklich angekündigt. Dies alles nur in groben Zügen; wie sich die Wirklichkeit in der Fleischindustrie gestaltet, ist mittlerweile weitläufig bekannt. Diese Realität war allerdings nun keine Neuigkeit. Schon vor Corona wusste man – wenn man es wissen wollte -, wie Fleisch produziert wird.
Nichts davon war und ist verboten. Werksverträge sind sogar erlaubt und wurden im Sinne der Arbeitsmarktflexibilisierung als gute Option zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit angepriesen. Die Gesundheitsbehörden wurden absichtlich kleingehalten, schon deshalb, um Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Als regionale Behörden sind sie so angelegt, dass sie überregional weder agieren noch reagieren können.
All diese Missstände hätten aber abgeschafft, krumme Touren verboten sein können – ja müssen. Es wäre Aufgabe einer fürsorglichen Politik, diese Missstände zu verunmöglichen. Geschehen ist jedoch nichts. Gabriel, der Tönnies jetzt bestätigt, nichts falsch gemacht zu haben, gibt also so zu, dass die Politik grundlegend versagt hat. Sie hat ihre Aufgaben nicht erledigt, weggeschaut oder viel zu lax und liberal reagiert.
Es ist nicht so, dass Gabriel nicht schon lange vor Corona wusste, welche Probleme da im Fleischsektor entstanden sind – und wie unfair und menschenverachtend dort Geschäfte betrieben werden. Er wurde ja auch tätig, damals als Bundeswirtschaftsminister. So tätig, wie es das deutsche Politikverständnis zulässt: Nicht zupackend, fordernd und verbindlich, sondern rücksichts- und verständnisvoll – der Wirtschaft gegenüber.
Freiwillig selbstkontrolliert oder Außer Kontrolle?
Das war 2015. Seinerzeit nannte er die Fleischindustrie noch eine »Schande für Deutschland« – besonders wegen der Arbeits- und Unterkunftssituation der Werksvertragler. Eine Lösung musste also her. Der Minister sammelte die Fleischproduzenten um sich, die von Tönnies vertreten wurden. So gehe es schließlich nicht weiter. Gesagt – getan: Eine freiwillige Selbstkontrolle der Unternehmen sollte es richten.
Wieder mal. Immer dann, wenn es Handlungsbedarf gibt, greift die deutsche Politik auf dieses probate Mittel zurück. Wobei »probat« nicht meint, dass es funktioniert, sondern mehr so etwas wie ein Surrogat darstellt – eine Ersatz- und Übersprungshandlung.
Ob nun Andreas Scheuer, der die Automobilindustrie zu freiwilligen Umrüstungen für Abbiegeassistenzen verpflichtet – oder Julia Klöckner, die die Lebensmittelindustrie freiwillig zur Herstellung gesünderer Waren einschwört: Die Freiwilligkeit ist zu einer Obsession deutscher Politik geworden. Wobei der Ausdruck, jemanden zur Freiwilligkeit verpflichten zu wollen, schon ganz klar verrät, wes Geistes Kind diese Haltung ist. Der Duden definiert das Wort »freiwillig« mit folgender Kurzerklärung: »aus eigenem freiem Willen geschehend; ohne Zwang ausgeführt«. Von einer etwaigen Pflicht oder Verpflichtung weiß das Wörterbuch nichts zu berichten.
Der freiwillige Zwang oder die zwanghafte Freiwilligkeit ist ein Spagat zweier sich ausschließender Grundverständnisse, eine politische Quadratur des Kreises, die in die Überflüssigkeit der Politik mündet und dem politischen Primat endgültig den Garaus macht. Sigmar Gabriel, der seinerzeit der Fleischindustrie diese Freiwilligkeit ans Herz gelegt hat, zeigt jetzt, ganze fünf Jahre danach, wie hinfällig und substanzlos eine solche Form politischer Gestaltung ist. Sie entlarvt sich als Showpolitik, Politikunterlassung, Pseudohandlungsfähigkeit.
Die unsichtbare Hand deutscher Politikunterlassung
Politik in Deutschland versteht sich offenbar nicht mehr als Regelmacherin, sondern als konziliante Unternehmensberatung, als freundlicher Gewissensbiss, der auf etwas hinweist, aber keine Konsequenzen verlangt. Sie wirkt als Erbauerin, als aufmunternde Instanz, die Umsicht und Besorgnis suggeriert, eine Show um Verantwortlichkeit und Regulierung abzieht.
Der Ökonom Heiner Flassbeck schrieb vor einem Jahr zur Freiwilligkeit in MAKROSKOP, dass man das Scheitern freiwilliger Einsicht auf Deutschlands Autobahnen bestaunen könne. Wer hält sich denn wirklich an eine Richtgeschwindigkeit, die als warme Empfehlung zu betrachten ist? Sein Fazit: »Freiwilligkeit, die große deutsche Lösung bei vielen Fragen, wo es um gesellschaftliche Ziele geht, ist nichts anderes als Konfusion, als ein Missverständnis darüber, wie ein System funktioniert, dessen Mitglieder in einer gewissen Wettbewerbsbeziehung stehen.«
Diese unsichtbare Hand der unterlassenden Politik scheitert im Alltag ständig. Ob nun Richtgeschwindigkeit oder Lebensmittelkonzerne, die sich mehr Gesundheit auf die Fahnen schreiben sollen: Es klappt einfach nicht. Sigmar Gabriels Einsatz von 2015 zeigt nun, dass die Freiwilligkeit auch hier gescheitert ist. Wobei man ernstlich fragen kann, ob etwas scheitern kann, das weder Hand noch Fuß hatte. Eher ist es nur konsequent, dass es genau so und nicht anders kam.
Gabriels Engagement bei Tönnies mag auf den ersten Blick nur ärgerlich sein. Kennt man allerdings die Vorgeschichte, wächst sie sich zu einem mal wieder skandalösen Vorgang aus, der sich zwischen Politik und Wirtschaft manifestiert. Da steckt eben mehr drin als plumper Ärger. Es ist ein Totalversagen und der abermalige Beleg dafür: Freiwilligkeit ist keine Lösung. Sie ist Teil des Problems, das da heißt: Das politische Primat schafft sich ab.