Wolfgang Streeck ist Soziologe und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Er lehrteals Professor unter anderem an der University of Wisconsin-Madison und an der Universität Köln. Sein Buch „Gekaufte Zeit“ (Suhrkamp, 2013) wurde in 15 Sprachen übersetzt. Zuletzt ist erschienen: „How Will Capitalism End? Essays on a Failing System“ (Verso Books, 2016) Das PSPP-Urteil hat einen grundlegenden Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof ausgelöst. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob die EU eine internationale Organisation oder ein Bundesstaat ist. Das PSPP-Urteil (Public Sector Purchasing Program) des Bundesverfassungsgerichts hat eine weitere Bruchlinie im Aufbau der Europäischen Union
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Wolfgang Streeck ist Soziologe und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Er lehrte
als Professor unter anderem an der University of Wisconsin-Madison und an der Universität Köln. Sein Buch „Gekaufte Zeit“ (Suhrkamp, 2013) wurde in 15 Sprachen übersetzt. Zuletzt ist erschienen: „How Will Capitalism End? Essays on a Failing System“ (Verso Books, 2016)
Das PSPP-Urteil hat einen grundlegenden Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof ausgelöst. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob die EU eine internationale Organisation oder ein Bundesstaat ist.
Das PSPP-Urteil (Public Sector Purchasing Program) des Bundesverfassungsgerichts hat eine weitere Bruchlinie im Aufbau der Europäischen Union freigelegt, nämlich die zwischen Rechtsordnungen mit unterschiedlichen Verfassungsrechtskonzepten. Hier gibt es Parallelen zum Vereinigten Königreich, wo ein Konzept nach EU-Muster, nach dem eine Verfassung Schritt für Schritt von einem letztinstanzlichen Gericht forteschrieben wird, mit der tief verwurzelten Tradition des Regierens durch das Parlament kollidierte, was zum Brexit beitrug.
In dem Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) beobachten wir einen Kampf zwischen zwei mächtigen letztinstanzlichen Gerichten, bei dem es um nichts weniger als um die Frage geht, ob die EU eine internationale Organisation oder ein Bundesstaat ist.
Starke Position Teil des politischen Nachkriegs-Erbes
Die starke Position des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland ist ein wesentlicher Teil des politischen Nachkriegs-Erbes des Landes. Sie ist vergleichbar mit der Bestimmung im deutschen Grundgesetz, dass deutsche Truppen, selbst wenn sie unter internationalem Kommando stehen, nicht ohne ein eng definiertes parlamentarisches Mandat eingesetzt werden können. Beides schränkt den Ermessensspielraum der Bundesexekutive ein, und beides lässt sich nicht ohne weiteres mit einer weiteren verfassungsrechtlichen Verpflichtung der deutschen Regierung vereinbaren, nämlich der, internationale Zusammenarbeit als nationales Ziel zu verfolgen.
Generell können die weitreichenden Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts eine unbequeme Beschränkung der Handlungsfähigkeit deutscher Regierungen darstellen, in der Außen- wie in der Innenpolitik. Dies ist so, obwohl manchmal der Hinweis auf das Gericht als potentiellem Spielverderber die internationale Verhandlungsposition des Landes verbessern kann. Auf der anderen Seite tut das Gericht meist sein Bestes, um der an der Macht befindlichen Regierung entgegenzukommen.
So auch im Fall des PSPP, wo es die deutsche Zentralbank nicht daran hinderte, sich am Anleihekaufprogramm der EZB zu beteiligen. Worauf das Gericht jedoch besteht, ist seine Entscheidungsbefugnis darüber, ob Handlungen von Organen des deutschen Staates, hier vor allem der Bundesbank, gegen demokratische und politische Grundrechte deutscher Bürger verstoßen könnten, weil sie nicht durch das deutsche Grundgesetz oder durch vom deutschen Staat rechtmäßig ratifizierte völkerrechtliche Verträge gedeckt sind.
Verfassungen können auch nicht unter dem Druck einer Krise ignoriert werden
Die Auswirkungen sind weitreichend. Unter Festhalten an seinem Verfassungsauftrag bestand das Gericht darauf, dass EU, EZB und EuGH ihre Zuständigkeit nicht auf die verfassungsmäßigen Rechte deutscher Bürger gegenüber dem deutschen Staat ausdehnen können. Dies mag zwar trivial erscheinen, impliziert aber, dass die Europäische Union (noch) kein Bundesstaat ist, sondern darauf angewiesen ist, dass ihre Mitgliedstaaten ihnen bestimmte Machtbefugnisse übertragen. (Einer der Richter sagte in einem Zeitungsinterview ein paar Tage nach der Urteilsverkündung: „Solange wir nicht in einem europäischen Staat leben, unterliegt die Mitgliedschaft eines Landes dem Verfassungsrecht dieses Landes.“)
Das Urteil impliziert auch, dass Verfassungen – einschließlich der De-facto-Verfassung der EU – nicht einfach so nebenbei geändert werden können. Sie können auch nicht unter dem Druck einer Krise ignoriert werden, gemäß dem berüchtigten Spruch von Carl Schmitt ‚Der Notstand ist die Stunde der Exekutive‘, ganz zu schweigen von dem ebenso berüchtigten deutschen Sprichwort: ‚Not kennt kein Gebot‘.
Wer will, dass die EU souverän ist, sagt das Gericht, dem steht es frei, eine formelle Revision der Verträge anzustreben, gefolgt von Referenden, dort wo dies verfassungsrechtlich erforderlich sei, damit Vertragsänderungen Geltung haben. Föderalismus, warum nicht – aber bitte bei hellem Tageslicht, und nicht als Nebeneffekt des von einem aktivistischen europäischen Gericht sanktionierten Krisenmanagements der EZB. (Natürlich ist eine bundesstaatliche Revision der Verträge, eigentlich jede Revision, heute und in absehbarer Zukunft ausgeschlossen – auch wegen der Heterogenität der Interessen der mittlerweile 27 Mitgliedstaaten, von denen keiner, auch und gerade nicht die Mittelmeerländer, auf seine Souveränität verzichten will).
Frage nach der wahren Natur und der Finalität der EU
Es ist interessant, dass die Kommentatoren, rechte wie linke, nicht verstehen, wie groß die Verlegenheit ist, in die die PSPP-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht die deutsche Exekutive gebracht hat, zu einer Zeit, in der Deutschland in der zweiten Hälfte des Jahres die Ratspräsidentschaft in der Union übernimmt. So muss der deutsche Staat, um die internationale rhetorische Aufregung über die vermeintliche deutsche Knickerigkeit abzukühlen, möglicherweise mehr für seine europäische Hegemonie bezahlen, als er seinen krisengeschüttelten Wählern zumuten kann. Schlimmer noch, das Urteil hat die Frage aller Fragen aufgeworfen, die die europäischen Regierungen peinlichst zu vermeiden gelernt haben, nämlich die nach der wahren Natur und der Finalität der EU.
Für die deutsche politische Klasse muss die Versuchung enorm sein, den europäischen Aufschrei über das Bundesverfassungsgericht zu nutzen, um seinen Rang in der deutschen Verfassung herunterzustufen. Dass dies den politischen Spielraum der Exekutive erweitern würde, stünde im Einklang mit einer allgemeinen Tendenz in den kapitalistischen Demokratien, mit bemerkenswerten Parallelen zu den Entwicklungen beispielsweise in Polen und Ungarn. Allerdings wäre eine Beschneidung der Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts nicht einfach, da sein Ansehen in der deutschen Öffentlichkeit hoch ist.
Verfassungsänderung als Geschenk an den Europäischen Rat?
Dennoch könnte eine Verfassungsänderung Chancen haben, die das Bundesverfassungsgericht zu einem zweitinstanzlichen Gericht hinter dem EuGH macht. Insbesondere wenn der Eindruck erweckt werden kann, dass dies gegen Corona und die anschließende wirtschaftliche Katastrophe irgendwie helfen würde. Die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament ließe sich vielleicht finden, wobei SPD und Grüne für die CDU/CSU-Abgeordneten einspringen könnten, die sich einer solchen Änderung verweigern würden. Wäre dies nicht ein schönes Geschenk von Merkel an den Europäischen Rat, wenn Deutschland am 1. Juli 2010 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt?
Eine Herabstufung des deutschen Verfassungsgerichts sollte auch jenen willkommen sein, die – wie der Philosoph Jürgen Habermas – eine europäische Armee als Vehikel zu einem europäischen Staat fordern. Die Notwendigkeit, ein Mandat des Bundestages zu erhalten, war oft ein Problem, wenn Deutschland aufgefordert wurde, Truppen für „Missionen“ an Orten wie Irak, Libyen, Syrien, Mali oder Afghanistan bereitzustellen. Ohne das Verfassungsgericht, zumindest wenn es um Außenpolitik und internationale Zusammenarbeit geht, wäre es für die Regierung einfacher, sich über parlamentarische Bedenken hinwegzusetzen.
Ursula von der Leyen, jetzt Präsidentin der Europäischen Kommission, wird sich in ihrer früheren Eigenschaft als deutsche Verteidigungsministerin in mehr als einer Situation befunden haben, in der sie den Amerikanern oder Franzosen wegen vorhersehbarer Einwände im Bundestag einen erbetenen Gefallen nicht tun konnte. Als Präsidentin der EU-Kommission würde sie den Aufbau einer europäischen militärischen „Zusammenarbeit“, etwa bei der Kontrolle des französischen postkolonialen Westafrika, ohne das deutsche Verfassungsgericht aussichtsreicher betreiben können.
Verletzung der „europäischen Souveränität“?
In jedem Fall forderten grüne Abgeordnete im Europäischen Parlament die Kommission unmittelbar nach der Bekanntgabe des Gerichtsurteils auf, ein formelles Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten – vermutlich im Namen eines deutschen Verfassungspatriotismus – obwohl die deutsche Regierung nichts zur Umsetzung des Urteils unternommen hatte und es überhaupt nicht klar war, ob sie das jemals tun würde. Von der Leyen, eine alte Merkel-Loyalistin, zog nach und äußerte die Befürchtung, dass sich andernfalls osteuropäische Länder wie Polen dazu ermutigt fühlen könnten, dem EuGH ebenfalls nicht zu gehorchen. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete sie das PSPP-Urteil beiläufig als eine Verletzung der „europäischen Souveränität“.
Vertragsverletzungsverfahren brauchen Zeit, und in jedem Fall werden sich etliche Mitgliedsstaaten fragen, was es für ihre Souveränität bedeuten würde, wenn es der EU gelänge, Souveränität für sich zu beanspruchen. Vielleicht warten sie bis zur letzten Minute, in der Hoffnung, dass die Deutschen den Konflikt für sie ausbaden werden. Sehr wahrscheinlich wird das Verfahren beendet oder gar nicht erst begonnen werden, wenn Deutschland im Gegenzug mehr in den nächsten europäischen Haushalt einzahlt als zuvor, vielleicht nachdem es sein Verfassungsgericht als Opferlamm auf den Altären des Europäismus geschlachtet oder doch zurechtgestutzt hat.
Was auch immer sonst passieren mag, auf zwei Dinge kann man wetten. Erstens wird die deutsche Regierung Wege finden, damit die EZB weiterhin „alles tun kann, was nötig ist“, um den Euro am Leben zu erhalten. (Ob dies letztendlich erfolgreich sein wird, ist eine andere Frage.) Der Euro ist die ultimative deutsche Goldgrube, und während es bei weitem nicht klar ist, warum Italien, Spanien und Frankreich so eifrig an ihm festhalten, ist er für Deutschland in diesen Zeiten langanhaltender kapitalistischer Stagnation eine Lebensader.
Zweitens, auch wenn die EZB und der Brüsseler Haushalt und die Europäische Investitionsbank und die anderen noch einige Jahre lang die Mittel finden, um die politischen Klassen der im Niedergang begriffenen südlichen Peripherie des Eurolandes durch europäische Geldinjektionen und geschickt inszenierte symbolische deutsche Kapitulationen an der Macht zu halten, wird dies die wirtschaftliche Verwüstung der Mittelmeerländer nicht aufhalten. Diese ist struktureller Art, wurzelt im Verzicht der Mittelmeerländer auf ihre Währungssouveränität und sind so tiefgreifend, dass sie nicht durch Transferleistungen behoben werden können, die deutsche Regierungen sich wirtschaftlich oder politisch leisten könnten.
Das Ergebnis wird wachsende Ungleichheit zwischen den Ländern der Währungsunion und innerhalb der Länder selbst sein, begleitet von noch schneller wachsender internationaler Feindseligkeit. Die Stunde der Wahrheit für die leeren deutschen Versprechungen der Vergangenheit, gemacht in der leichtsinnigen Hoffnung, dass sie niemals eingelöst werden müssen, kommt näher. Die Enttäuschung wird die europäische Politik zutiefst vergiften.
Die spanische Version dieses Artikels erschien zuerst auf dem spanischen Internet-Magazin „El Salto„.