Klaus Dräger war langjähriger Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Beschäftigungs- und Sozialausschuß des Europäischen Parlaments. Er gehört dem Beirat der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z an. Die Ergebnisse des EU-Gipfels wurden positiv bis überschwänglich kommentiert. Zwar hat die massive Schuldenaufnahme durch die Kommission die supranationale Ebene gestärkt. Doch unterm Strich steht die EU noch schlechter da, als vor Corona. Wenn’s ums Geld geht, fliegen in der EU immer die Fetzen. Dieses Mal aber fand der Streit in einer extremen Ausnahmesituation statt: Die EU steckt in einer existentiellen Krise. Das hatte auch Angela Merkel verstanden. Nachdem sie noch im April einen Vorstoß der Südländer für Corona-Bonds und damit eine Vergemeinschaftung von
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Peter Wahl considers the following as important: Nachlese zum EU-Gipfel
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Klaus Dräger war langjähriger Mitarbeiter der Linksfraktion (GUE/NGL) im Beschäftigungs- und Sozialausschuß des Europäischen Parlaments. Er gehört dem Beirat der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z an.
Die Ergebnisse des EU-Gipfels wurden positiv bis überschwänglich kommentiert. Zwar hat die massive Schuldenaufnahme durch die Kommission die supranationale Ebene gestärkt. Doch unterm Strich steht die EU noch schlechter da, als vor Corona.
Wenn’s ums Geld geht, fliegen in der EU immer die Fetzen. Dieses Mal aber fand der Streit in einer extremen Ausnahmesituation statt: Die EU steckt in einer existentiellen Krise. Das hatte auch Angela Merkel verstanden. Nachdem sie noch im April einen Vorstoß der Südländer für Corona-Bonds und damit eine Vergemeinschaftung von Schulden abgeschmettert hatte, war die Dramatik der Corona-Krise jetzt Anlass, wenigstens eine Light-Version vergemeinschafteter Kreditaufnahme vorzunehmen. Zuviel deutsche Interessen standen auf dem Spiel, wäre der Konflikte weiter eskaliert.
Bei den Anhängern von Mehr Europa führte das „Recovery-Programme“ zu euphorischen Reaktionen. Nach zehn Jahren Dauerkrisen glauben sie jetzt an einen historischen Durchbruch. Ratspräsident Michel prahlte gar, das sei jetzt die ››kopernikanische Wende‹‹.
Allerdings blendet der Hype drei schmerzliche Wahrheiten aus:
- die ökonomische Wirkung des Recovery-Programms wird maßlos überschätzt,
- den Konflikten ums Geld liegen tieferliegende, strukturelle Verschiebungen in der informellen Machtarchitektur der EU zugrunde,
- prinzipielle, schon länger schwelende, Differenzen über die weitere Entwicklung der EU sind jetzt offen aufgebrochen.
Doch zunächst zum Geld.
Normaler EU-Haushalt: auf Sparkurs
1,8 Billionen Euro zur ››Rettung Europas‹‹ – das klingt bombastisch. Davon sind aber 1,074 Billionen Euro der normale Haushaltsrahmen für 2021 bis 2027. Und dieser Haushalt ist ein Sparhaushalt. 2018 waren noch 1,346 Billionen Euro vorgeschlagen worden. Gegenüber dem Finanzrahmen 2014 – 2020 wurden die Mittel für Agrarpolitik um 46 Milliarden Euro gekürzt. Auch für Kohäsionspolitik gibt es zehn Prozent weniger. Deutlich weniger geht auch an den Europäischen Sozialfonds, das Erasmus-Programm, für Forschung oder den EU-Investitionsfonds (Invest-EU).
Anders als im Entwurf der Kommission wurden auch die zusätzlichen Gelder für Forschung (Horizon Europe) gekürzt. Die Zusatzmittel für Migration, Nachbarschaftspolitik, Gesundheit (8 Milliarden Euro), klimaneutralen Umbau der Kohleregionen (Just Transition Fund, 30 Milliarden) und bei EU-Progammen für Länder außerhalb der EU zu Umwelt, humanitären Hilfen usw. wurden sogar ganz gestrichen. Von der Leyens ››Green Deal‹‹ ist deutlich ramponiert.
Corona-Wiederaufbau-Paket: Zuschüsse vs. Kredite
Die sogenannten ››Sparsamen Fünf‹‹ konnten deutliche Erfolge verbuchen. 390 Milliarden Euro (statt ursprünglich 500 Milliarden) sollen als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten fließen, 360 Milliarden (statt 250 Milliarden) als Kredite. Bei einer Laufzeit von drei Jahren sind das aufs Jahr umgelegt 130 Milliarden Euro. Gemessen am BIP der EU-27 (14,7 Billionen Euro in 2019) sind das gerade mal 0,8 % des jährlichen BIP. Angesichts des Ausmaßes des wirtschaftlichen Einbruchs – und auch im Vergleich zu den nationalen Rettungspaketen – entpuppt sich die vielzitierte ››Bazooka‹‹ als Wasserpistole.
Kredite hingegen werden von Mitgliedstaaten mit einer hohen Staatsverschuldung nur sehr zögerlich in Anspruch genommen. Bereits beim ersten Corona-Paket wurden von den 240-Milliarden-Euro-Krediten des ESM bislang keine abgerufen. Die Länder fürchten einen Stigmatisierungseffekt: Wer ESM-Kredite aufnimmt, muss an den internationalen Finanzmärkten mit höheren Zinsen bei Staatsanleihen rechnen.
Kernstück des Pakets ist der Wiederaufbaufonds (Recovery and Resilience Facility, RRF). Bis 2024 soll er 312,5 Milliarden Euro an Zuschüssen bereitstellen. Die Mitgliedstaaten sollen jährlich nationale Wiederaufbaupläne vorlegen, die von der Kommission geprüft und vom Rat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. Die Länder sollen Zahlungen daraus erhalten, sofern sie Fortschritte gemäß der EU-Ziele glaubhaft belegen können. Diese Ziele sind noch nicht konkret festgelegt. Geld aus dem Wiederaufbaufonds ist ohnehin dem sogenannten Europäischen Semester unterworfen, dem Instrument der wirtschaftspolitischen Steuerung durch die Kommission.
Der nächste Sprengsatz: Auflagen für Corona-Hilfe
Das Europäische Semester machte in der Vergangenheit verschiedenen Mitgliedstaaten Auflagen zu neoliberalen Strukturreformen (z.B. Erhöhung des Renteneintrittsalters, Rentenkürzungen, Lohndeckelung, Einschränkungen von Flächentarifverträgen, Privatisierungen im Gesundheitswesen). Die Fünfer-Allianz pocht jetzt auf weitere ››Reformen‹‹.
Sie konnten einen ›Notbremsmechanismus‹ durchsetzen. Sobald ein Mitgliedsland Bedenken gegen einen nationalen Wiederaufbauplan hat, werden die Zahlungen gestoppt und der Rat muss erneut darüber beraten und dann mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Das Magazin Politico kommentiert dazu:
››Wenn ein nationaler Reformplan an die Staats- und Regierungschefs der EU verwiesen wird, ist es wahrscheinlich, dass jeder Plan oder eine große Anzahl von Plänen das gleiche Schicksal ereilen wird, was auf Jahre hinaus zu entzweienden und potenziell giftigen Verhandlungen führen wird, mit anhaltender Unsicherheit und politischem Drama um den Zeitpunkt jeder einzelnen Auszahlung.‹‹
Wer gewinnt, wer verliert?
Der Verteilungsschlüssel wurde ebenfalls geändert. Für 2023 soll einzig der Rückgang des BIP von 2020 sowie der kumulierte Verlust 2020-2021 zu Grunde gelegt werden. Laut einer Analyse des offiziösen Bruegel-Instituts begünstigt dies die großen EU-Staaten. Gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission würden Deutschland (20,4 Milliarden) und Frankreich (7,4 Milliarden) mehr aus den Zuschüssen erhalten. Andere EU-Staaten hingegen weniger. Italien (1 Milliarden), Spanien (9,5 Milliarden) und Polen (11,4 Milliarden) wären ebenso die Verlierer wie die kleineren EU-Länder.
Transfers – mal anders herum
Nach dem Brexit sollten eigentlich die von Margret Thatcher durchgesetzten Rabatte wegfallen. Der deutsche bleibt bei 3,761 Milliarden Euro jährlich. Für die Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark wurden die Nachlässe sogar noch aufgestockt. Auch von Zolleinnahmen der EU sollen die Mitgliedstaaten einen größeren Brocken abbekommen. Finanziert werden die Rabatte freilich durch die Beiträge aller Mitgliedsstaaten.
Mehr EU-Eigenmittel, für schnelleren Schuldenabbau?
Dazu hat sich der EU-Gipfel bislang nur darauf verständigt, ab 2021 möglicherweise eine EU-Abgabe auf nicht recyclebare Plastik-Abfälle einzuführen. Alle anderen Instrumente (Digital-Steuer, CO2-Grenzabgabe, Finanztransaktionssteuer) sollen in den kommenden Jahren diskutiert werden. Da sie alle umstritten sind, sind ihre Realisierungschancen ungewiss.
Fazit: Die ››historischen Beschlüsse‹‹ des EU-Gipfels sind gemessen an den gesundheitlichen (zweite Corona-Welle!), wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Pandemie und der Klima- und Umweltkrise ausgesprochen mager. ›Too little, too late‹, so kommentierten ja auch viele Mainstream-Ökonomen. Das Notprogramm dürfte für die hart getroffenen Länder eine leicht dämpfende Wirkung haben. Die Dynamik des ökonomischen und sozialen Auseinanderbrechens der EU wird es nicht aufhalten.
Militarisierung und die Linke
Die Mittel für den EU-Verteidigungsfonds und andere Posten für geostrategische Großmachtambitionen haben sich einigermaßen gehalten.
Das EU- Parlament hat in seiner Resolution zu den Gipfel-Ergebnissen unter anderem nochmal gefordert, durch Umschichtungen im Haushalt auch den Verteidigungsfonds zu stärken.[1] Ein pikantes Detail am Rande ist dabei, dass die Linksfraktion GUE/NGL den Fonds früher stets vehement abgelehnt hatte. Dieses Mal trug sie die Resolution mit der Forderung nach mehr Militärausgaben mit.
Tektonische Verschiebungen in der Machtarchitektur
Die EU ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Die ››informellen Mechanismen der Macht‹‹ (Bourdieu) und die daraus resultierende Hierarchie waren immer ein entscheidender Faktor für die Integration. Die Rede vom ››deutsch-französischen Motor‹‹ ist nur die Umschreibung dafür, dass es ein hegemoniales Machtzentrum gibt Der Gipfel hat hier jedoch eine folgenschwere Verschiebung ans Licht gebracht.
Zum einen an der Spitze der Hierarchie. War bis zur Wiedervereinigung Frankreich der führende Partner, verschoben sich seither die Gewichte. In der Finanz- und Eurokrise hat sich das Verhältnis gänzlich umgekehrt. Macron versucht jetzt, Frankreich wenigstens wieder auf Augenhöhe zu bringen, und sagt das auch offen:
››Ich habe mich für einen Weg entschieden, durch den Frankreich wieder seinen Rang unter den Nationen Europas einnimmt.‹‹[2]
Von seinen Vorschlägen für ein Eurozonenbudget mit Euro-Finanzminister, über die harsche Kritik an der irrwitzigen Exportweltmeisterschaft der Deutschen, bis jüngst hin zum Beitritt in die Süd-Allianz für Corona-Bonds reichen die Versuche, die ökonomischen Probleme Frankreichs auch mit Hilfe von ››Europa‹‹ zu kompensieren. Make France great again!
Das zeigt sich auch auf außenpolitischem Terrain, wo er versucht, französische Stärken auszuspielen, wie der Status als Atommacht und der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat. Ähnliches gilt, wenn er die NATO für hirntot erklärt, oder dem Westen Mitverantwortung an den Spannungen mit Moskau zuweist und für eine neue Entspannungspolitik plädiert.[3]
Kontrovers zu Berlin auch Digitalsteuern für US-Konzerne, China-Politik, Widerstand gegen die EU-Erweiterung im Westbalkan, oder die Unterstützung für General Haftar in Libyen, wo Paris sich in einem Lager mit Ägypten, den Emiraten und Russland findet. Dass durch Corona der ökonomische Vorsprung Deutschlands – zumindest vorerst – noch größer wird, hält die Rivalität an der Spitze der EU-Hierarchie am Kochen.
Führungsschwäche des Zentrums
Die Zeiten des unangefochtenen deutsch-französischen Kondominiums sind jetzt allerdings vorbei. Schon vor dem Gipfel scheiterte das Duo, den Vorsitz der Eurogruppe mit der Spanierin Nadia Calviño zu besetzen. Stattdessen setzte eine Allianz aus Holländern, Skandinaviern, Österreich und Balten den Iren Paschal Donohoe durch.
Beim Gipfel trat endgültig zutage, dass die Niederlande, Dänemark, Schweden, Österreich und Finnland ein machtpolitisches Sub-Zentrum gebildet hatten, das über enormes Blockadepotential verfügt. Bemerkenswert auch, die parteipolitische Mischung dieser Allianz. Während die drei nordischen Länder von Sozialdemokraten geführt werden, sind die Regierungen in Den Haag und Wien rechts-konservativ.
Hier zeigen sich die ersten Konsequenzen des Brexit. London war immer Frontmann des Lagers, das auf Distanz zu weiteren Souveränitätstransfers an Brüssel hielt. Die anderen, die ähnlich ticken, konnten sich bisher dahinter verstecken. Jetzt mussten sie Farbe bekennen. So hatte Mark Rutte schon vor Corona erklärt, dass ››den Niederlanden nach dem Brexit eine führende Rolle‹‹ gegen ››mehr Europa‹‹ zukäme.[4] Deutlich wurde er auch schon in einer Rede vor dem EU-Parlament 2018:
››Mehr und mehr Europa ist nicht die Antwort auf die vielen Probleme, die die Menschen in ihrem Alltag haben. Für manche ist die ›immer engere Union‹ noch immer ein Ziel in sich selbst. Nicht für mich.‹‹[5]
Das neue Sub-Zentrum ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern Ausdruck tektonischer Verschiebungen, die dauerhaft die weitere Entwicklung prägen werden.
Die moralisierende Rede von den ››Geizigen Fünf‹‹ verschleiert, dass es nicht nur um Geld geht – der tieferliegende Grund für den Konflikt ist letztlich eine andere Vorstellung von der Zukunft der Integration, als bei den Anhängern von ››Mehr Europa!‹‹ Moralische Urteile, zumal eurozentristisch verengte, trüben da nur die Wahrnehmung.
Denn wenn es um wirkliche Solidarität geht, sind die Süd-Länder auch nicht besser, wie z.B. deren Entwicklungshilfe zeigt. Während Dänemark mit 0,7% seines BIP exakt das 0,7%-Ziel der UN erfüllt, Schweden sogar 1% aufbringt und die Niederlande immerhin noch 0,6%, ist Italien und Spanien die Solidarität mit den armen Ländern des Globalen Südens gerade mal 0,2% wert.[6]
Ost-West-Konflikt
Ein anderes Subzentrum besteht schon lange: die Visegrád-Gruppe.[7] Beim Gipfel stand zwar der ungarische Staatschef Orban im Fokus, aber die Gruppe hält zusammen, wenn es um die Abschottung vor Flucht und Migration, um Geld und um Brüsseler Vorgaben zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geht, die sie als Beeinträchtigung ihrer Souveränität verstehen. Der Versuch, die Krise als Hebel zu nutzen, um an Ungarn eine Exempel zu statuieren, ist gescheitert. Der Kompromiss in der Abschlusserklärung des Rats läuft darauf hinaus, das Thema zu verschieben und in der Schwebe zu halten. So erklärte Ratspräsident Michel denn auch: ››Es besteht noch keine vollständige Klarheit über das Verfahren.‹‹[8] Vermutlich wird der Konflikt bei nächster Gelegenheit wieder aufbrechen
Auch das östliche Subzentrum wird nicht mehr so schnell verschwinden, sondern dürfte sich sogar noch verfestigen wird, wenn der Konflikt eskaliert.
Grundproblem: Imperiale Überdehnung
Neben den schon lange bestehenden Fragmentierungen, wie zwischen Eurozone und Nicht-Eurozone, NATO-Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft,[9] Schengen und Nicht-Schengen,[10] wird die Nord-Süd- und die Ost-West-Spaltung zunehmend der Entwicklungsdynamik der EU ihren Stempel aufdrücken.
Corona zeigt einmal mehr, dass die für Schönwetterbedingungen konzipierten Strukturen und Verfahren der EU dem Ausmaß und der Komplexität der Krise(n) nicht gewachsen sind. Und dabei sind die Vor-Corona-Probleme ja nicht einfach verschwunden – darunter ein immer wahrscheinlicher werdender Hard-Brexit, die Konflikte mit den USA, Kalter Krieg mit China, Flucht und Migration, die Defekte des Euro und natürlich der Klimawandel.
Das Gesamtbild nimmt immer mehr Züge an, wie wir sie aus dem Niedergang von Imperien kennen. Wegen Überdehnung und der daraus resultierenden Heterogenität verliert die EU zusehends an Kontroll- und Steuerungsfähigkeit. Die Verwundbarkeit durch externe Schocks und interne Konflikte nimmt zu. Natürlich ist sie, anders als klassische Imperien, als freiwilliger Zusammenschluss zustande gekommen. Aber die zunehmende Schwäche des Zentrums, wachsendes Selbstbewusstsein der Peripherie und die erstarkenden Subzentren verstärken die Zentrifugalkräfte und vertiefen die Fragmentierungen.
Es reicht gerade noch so zum Krisenmanagement als Dauerzustand – und das auf abschüssiger Bahn.