Die Antwort auf die Titelfrage lautet: Ja! Warum? Die Antwort darauf: „Beschäftigungssicherung“! Die Gewerkschaftsbewegung und ihre Berater glauben an eine einzelwirtschaftliche Fata Morgana. Das ist fatal, insbesondere für Europa. Man kann den deutschen Gewerkschaften und ihnen nahestehenden Institutionen nicht absprechen, dass sie sich bemühen, die ökonomischen Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre analytisch aufzuarbeiten und die Ergebnisse in eine gewerkschaftliche Weltsicht einzuordnen. So hat das IMK, das makroökonomisch ausgerichtete Institut der Hans-Böckler-Stiftung, in einem Report aus jüngster Zeit einige Schritte hin zu einer solchen Aufarbeitung und Einordnung gemacht. Doch am Ende siegt auch dort die Mikrosichtweise, die sogar von den
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Die Antwort auf die Titelfrage lautet: Ja! Warum? Die Antwort darauf: „Beschäftigungssicherung“! Die Gewerkschaftsbewegung und ihre Berater glauben an eine einzelwirtschaftliche Fata Morgana. Das ist fatal, insbesondere für Europa.
Man kann den deutschen Gewerkschaften und ihnen nahestehenden Institutionen nicht absprechen, dass sie sich bemühen, die ökonomischen Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre analytisch aufzuarbeiten und die Ergebnisse in eine gewerkschaftliche Weltsicht einzuordnen. So hat das IMK, das makroökonomisch ausgerichtete Institut der Hans-Böckler-Stiftung, in einem Report aus jüngster Zeit einige Schritte hin zu einer solchen Aufarbeitung und Einordnung gemacht. Doch am Ende siegt auch dort die Mikrosichtweise, die sogar von den Volkswirten, die den Gewerkschaften nahestehen, offensichtlich nicht mehr eingehegt werden kann.
Der IMK-Report enthält ziemlich am Anfang eine Aussage, die man nur unterschreiben kann:
„Das Konzept einer makroökonomisch orientierten Lohnpolitik, welches das IMK seit vielen Jahren vertritt und das auf einer keynesianischen Sicht des Wirtschaftsgeschehens basiert, betont aus makroökonomischer Sicht die stabilisierende Rolle angemessener Lohnzuwächse für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft insbesondere im Zusammenspiel mit der Geld und Fiskalpolitik und auch gerade im Hinblick auf die Entwicklungen im Euroraum. … [Die Lohnbildung] beeinflusst die Binnennachfrage direkt über die Einkommenswirkung des Lohnes und indirekt über die Verteilungswirkung aufgrund der unterschiedlichen Konsumneigungen verschiedener Einkommensgruppen. … Die Lohnentwicklung ist ein wichtiger Faktor für die Preisstabilität. … Zudem kommt der nationalen Lohnentwicklung innerhalb der Europäischen Währungsunion eine weitere Dimension in Bezug auf das Problem struktureller Leistungsbilanzungleichgewichte zu.“ (Seite 3)
Auf der Basis dieser Aussage und einer vollkommen korrekten empirischen Darstellung der Lohnentwicklung in den vergangenen beiden Dekaden hätte man erwartet, dass das IMK analysiert, wie und warum die Lohnpolitik in diesen zwanzig Jahren bei weitem nicht die stabilisierende Rolle gespielt hat, die sie hätte spielen können – und sollen. Anfang der 2000er Jahre wurden alle drei Stabilisierungsaufgaben schwer verletzt: Die deutsche Lohnentwicklung dämpfte die deutsche Binnennachfrage massiv, weil, wie das IMK explizit zeigt, die Abschlüsse weit hinter dem Verteilungsspielraum zurückblieben. Die deutsche Lohnpolitik destabilisierte zudem die europäische Preisentwicklung und sie schuf im Alleingang das Problem „struktureller Leistungsbilanzungleichgewichte“ in der EWU.
Theorie und Praxis – ein Gegensatz?
Die oben beschriebenen Wirkungen der Lohnpolitik, schreibt das Institut, sollten aber nicht „als eine „mechanistische“ Handlungsanweisung oder Norm für Tarifverhandlungen verstanden werden“ (Seite 4). In der tariflichen Praxis gehe es um mehr als nur Lohnfestsetzung und daher seien weitere Elemente zu berücksichtigen:
„Betriebliche Alterssicherung, Arbeitszeiten und Beschäftigungssicherung im Kontext des Strukturwandels sind beispielsweise weitere wichtige Dimensionen tarifvertraglichen Handelns. Selbstverständlich hat das Erreichen dieser Ziele Konsequenzen für die Höhe der Lohnabschlüsse. Auch können etwa im Fall der erfolgreichen Beschäftigungssicherung über eine Stabilisierung der Lohnsumme Tarifabschlüsse zusätzlich zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität beitragen.“ (Seite 5)
Implizit wird hier zugestanden, dass „Beschäftigungssicherung“ mit Lohnzugeständnissen erreichbar sei. Warum und auf welche Weise es dann zu einer Stabilisierung der Lohnsumme kommen soll, die zusätzlich zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität beiträgt, bleibt das Geheimnis des IMK.
Mit keinem Wort erwähnt das IMK, dass jede Verringerung der Lohnzuwächse, mit der die „Beschäftigungssicherung“ auf der betrieblichen Ebene oder auf der Ebene einer Branche erkauft wird, gesamtwirtschaftlich negative Arbeitsplatzeffekte hat. Die Beschäftigungssicherung wird ja immer nur für einen Teil der Wirtschaft vereinbart. Was im Rest geschieht, hängt von der Nachfrageentwicklung im Binnenmarkt ab, und die wird von der Lohnentwicklung, wie das IMK selbst einräumt, entscheidend bestimmt. Insofern wird vielleicht ein kleiner (privilegierter) Teil der Beschäftigungsverhältnisse „gesichert“, niemals aber die gesamte Beschäftigung.
Folglich ist auch die Position des IMK zu den Folgen der aktuellen Krise mehr als fragwürdig:
„Abzuwarten bleibt, wie sich der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Reports anhaltende schwerste Wirtschaftseinbruch seit der Weltwirtschaftskrise auf die Lohnentwicklung in Deutschland und den anderen Ländern des Euroraums auswirken wird. Einerseits versucht die Wirtschaftspolitik mit enormen Anstrengungen zur Beschäftigungssicherung in einem nie da gewesenen Ausmaß die Einkommen der Beschäftigten zu sichern und zu stabilisieren. Andererseits dürften die Lohnabschlüsse 2020 infolge der Wirtschaftskrise sehr moderat ausfallen. Mitentscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung im neuen Jahrzehnt wird sein, ob die Beschäftigungssicherung erfolgreich sein und der eingeschlagene Weg einer Lohnentwicklung, die den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum ausschöpft, nach dem Ende der CoronaKrise fortgesetzt wird. Eine anhaltende Phase der Austeritätspolitik infolge des starken Anstiegs der Staatsverschuldung durch die Bekämpfung der CoronaKrise, in Verbindung mit einer schwachen Lohnentwicklung nicht zuletzt als Folge eines deutlichen Anstiegs der Arbeitslosigkeit, könnte eine nachhaltige Erholung und die Rückkehr auf einen Pfad der Prosperität in Deutschland und in Europa verhindern.“
Warum sollte es in der Corona-Krise zu einer Pause bei der Lohnentwicklung, die den Verteilungsspielraum ausschöpft, kommen? Wieder werden „Beschäftigungssicherung“ und eine den Verteilungsspielraum ausschöpfende Lohnentwicklung als Gegensatzpaar behandelt. Das ist eindeutig falsch. Es muss heißen: Beschäftigungssicherung durch eine den Verteilungsspielraum ausschöpfende Lohnentwicklung!
Weil es, wie das IMK natürlich weiß, keinen neoklassischen Arbeitsmarkt gibt, führt die Vorstellung, es sei normal und offenbar angemessen, dass bei hoher und steigender Arbeitslosigkeit die Lohnabschlüsse „sehr moderat“ ausfallen, in die Irre. Auf der Seite der Gewerkschaften sollte man zur Kenntnis nehmen, dass es, vollkommen anders als in der neoklassischen Welt, keine „zu hohen“ Löhne sind, die die jetzt stark ansteigende Arbeitslosigkeit verursacht haben. Die Arbeitslosigkeit, die wir derzeit beobachten, ist vom Staat verordnet! Weniger steigende, stagnierende oder gar sinkende Löhne bedeuten unmittelbar den Verzicht auf Nachfrage, die genau dadurch geschaffen worden wäre, dass die Unternehmen die Löhne hätten erhöhen müssen.
Verzicht auf Nachfrage?
Den Unternehmen insgesamt hilft man durch den Verzicht auf Lohnerhöhungen in keiner Weise, weil sie – anders als die neoklassische Theorie behauptet – niemals die Möglichkeit ins Auge fassen, wegen sinkender Löhne ihre Produktionsverfahren auf höhere Arbeitsintensität umzustellen: Es wird nicht zurückgebaut, was an Produktivität bereits erreicht wurde. Für ein einzelnes Unternehmen wie für ein einzelnes Land kann Lohnzurückhaltung über die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den anderen Unternehmen und anderen Ländern wirksam sein. Für Deutschland insgesamt und erst recht für Europa insgesamt ist das eine gefährliche Strategie.
Verzicht auf Lohnsteigerungen bedeutet kurzfristig geringere Nachfragezuwächse und damit Arbeitsplatzverluste und längerfristig eine Verschärfung der deflationären Tendenzen. Für die Europäische Währungsunion, die infolge der deutschen Niedriglohnpolitik zu Beginn dieses Jahrhunderts und den daraus entstandenen „strukturellen“ Leistungsbilanzüberschüssen immer noch in einer deflationären Falle steckt, kann sich von einer erneut aus Deutschland kommenden Deflationstendenz die Lage nur verschlechtern. Die jüngste Vereinbarung zur Steigerung des Mindestlohns ab Januar 2021 auf 9,50 Euro, die klar unterhalb der Anhebung auf 9,82 Euro gemäß dem bisher üblichen Verfahren geblieben ist, gibt einen Vorgeschmack auf das, was von den Lohnverhandlungen in nächster Zeit zu erwarten ist, zumal diese Vereinbarung explizit mit den Folgen der Corona-Krise begründet wurde.
Vergangenheit aufarbeiten
Man sieht auch an diesem Beispiel wieder, in welche argumentativen Notstände man gerät, wenn man nicht bereit ist, die eigene Vergangenheit vollständig und nicht nur ansatzweise aufzuarbeiten. Weil die Gewerkschaften in Deutschland und ihre wissenschaftlichen Berater nicht bereit sind, die Lohnzurückhaltung im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts als Fehler zu brandmarken und klar zu sagen, dass es diese Politik war, die für die Leistungsbilanzungleichgewichte in Europa verantwortlich ist, können sie auch die Zukunft nicht unvoreingenommen angehen.
Die in Deutschland verbreitete Erzählung, Rot-Grün habe damals eine große Leistung vollbracht, indem man Lohnzurückhaltung durchsetzte, hängt den deutschen Gewerkschaften wie ein Mühlstein am Hals. Wie könnten sie heute für eine vernünftige Lohnpolitik eintreten, so lange ihr wichtigster politischer Ansprechpartner, die SPD, diese Erzählung mit Zähnen und Klauen verteidigt, und sie selbst nicht bereit sind, auch gegen die SPD ihre eigenen Fehler in dieser Geschichte klar zu benennen?
Stattdessen schließen sich auch die Wissenschaftler des IMK bereits in der Zusammenfassung am Anfang ihres Berichts der landläufigen Ansicht an, die letzten zehn Jahre seien in Deutschland von einer „guten wirtschaftlichen Entwicklung“ gekennzeichnet; in der folgenden Einleitung ist vom „längsten Aufschwung in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren“ die Rede und davon, dass Deutschland gut gerüstet sei, die Corona-Krise zu meistern.
Das steht in starkem Kontrast zu den Daten des deutschen Arbeitsmarktes. Die Zahl der Arbeitslosen war 2019 zwar noch einmal leicht auf 2,2 Millionen Personen bzw. eine Quote von 5,0 Prozent gesunken und lag damit rund eine Million unter dem Wert von 2010 (Quote damals 7,7 Prozent). Aber es ist im längsten Konjunkturaufschwung der Bundesrepublik nicht gelungen, die Zahl der erwerbsfähigen ALG II-Leistungsberechtigten gegenüber dem Höchststand im Jahr 2006 (knapp 5,4 Millionen), geschweige denn gegenüber dem Stand im Jahr 2010 (4,8 Millionen) auch nur zu halbieren: Im Durchschnitt des Jahres 2019 waren es nämlich noch 3,9 Millionen Personen. Als unterbeschäftigt galten 2019 immerhin 3,2 Millionen Personen. Von einer „guten wirtschaftlichen Entwicklung“ kann aus Sicht dieser Menschen nicht gesprochen werden.
Sieht man sich den jüngsten Aufschwung unter dem Aspekt der Investitionstätigkeit an, muss man konstatieren, dass er keineswegs zu den starken zählt. Gab es in den 1970er bis Anfang der 1990er Jahre noch Zuwachsraten bei den Investitionen von über 4 Prozent in drei aufeinanderfolgenden Jahren, kam eine solche Dynamik im vergangenen Jahrzehnt nicht vor. Nur in einem einzigen Jahr, nämlich 2011, gab es eine kräftige Investitionssteigerung. (Absehen muss man in diesem Zusammenhang vom Jahr 2010, in dem auf den Absturz der Investitionen in Folge der Finanzkrise mit -9,5 Prozent im Jahr 2009 eine Gegenbewegung mit +5,3 Prozent stattfand.)
Und so fragt man sich, was das IMK mit dem Wörtchen „wieder“ in der Einleitung seines Textes meint: „Spätestens, wenn der akute Absturz beendet ist, wird die Frage zu beantworten sein, mit welchen Rahmenbedingungen ein robustes Wirtschaftswachstum, makroökonomische Stabilität und ein hoher Beschäftigungsstand in den kommenden Jahren wieder zu erreichen sind.“
Das Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahrzehnts war weder robust noch von makroökonomischer Stabilität gekennzeichnet, wenn man den Blick auf die hiesige Investitionstätigkeit, auf die Europäische Währungsunion und den eigentlichen Wachstumsmotor richtet, auf den sich Deutschland im längsten Aufschwung seit den 1960er Jahren verlassen hat: seinen übermäßigen Außenbeitrag. Die Beschäftigungslage war im Vergleich zu unseren europäischen Partnern tatsächlich besser. Da sie aber in engem Zusammenhang mit der deutschen Überschussposition im Außenhandel steht, ist das kein Grund zur Freude, weil ihr negatives Spiegelbild eben bei unseren Währungspartnern zu beobachten ist. Denn Deutschland hat in seinen zehn Aufschwungjahren keine Lohnabschlüsse zustande gebracht, die den Partnerländern ein nicht-deflationäres Aufholen bei der Wettbewerbsfähigkeit erlaubt hätten. Genau das aber wäre die Aufgabe einer Lohnpolitik gewesen, die eine „aus makroökonomischer Sicht … stabilisierende Rolle … für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung … auch … im Hinblick auf die Entwicklungen im Euroraum“ hätte spielen sollen.
Es steht zu befürchten, dass Deutschland dieser Rolle auch in Zukunft nicht gerecht werden wird.