Walter Tobergte ist Sozialwissenschaftler und war in verschiedenenBereichen der Erwachsenenbildung sowie als Unternehmer tätig. Er hatüber internationale Wirtschaftsbeziehungen mit dem SchwerpunktDirektinvestitonen gearbeitet. Die Corona-Krise hat Hoffnungen auf eine Überwindung des Neoliberalismus und eine postneoliberale politische Ordnung geweckt. Doch dafür spricht nur wenig. Der Optimismus, der sich im Gefolge der Corona-Pandemie vielerorts herausgebildet hat, ist bemerkenswert. Beispielsweise glaubt Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin bei der „taz“, dass die Corona-Krise „die neoliberale Ideologie beerdigen (dürfte), die die westliche Welt seit 1980 dominiert hat“. Ähnlich äußert sich ihr Kollege bei der „taz“, Stefan Reinecke: „Die Pandemie besiegelt den
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Walter Tobergte ist Sozialwissenschaftler und war in verschiedenen
Bereichen der Erwachsenenbildung sowie als Unternehmer tätig. Er hat
über internationale Wirtschaftsbeziehungen mit dem Schwerpunkt
Direktinvestitonen gearbeitet.
Die Corona-Krise hat Hoffnungen auf eine Überwindung des Neoliberalismus und eine postneoliberale politische Ordnung geweckt. Doch dafür spricht nur wenig.
Der Optimismus, der sich im Gefolge der Corona-Pandemie vielerorts herausgebildet hat, ist bemerkenswert. Beispielsweise glaubt Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin bei der „taz“, dass die Corona-Krise „die neoliberale Ideologie beerdigen (dürfte), die die westliche Welt seit 1980 dominiert hat“. Ähnlich äußert sich ihr Kollege bei der „taz“, Stefan Reinecke: „Die Pandemie besiegelt den Bankrott des neoliberalen Modells.“
Sogar ein eher konservativer Ökonom wie Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wird im „Spiegel“ mit der Bemerkung zitiert: „Ich würde schon sagen, dass die Corona-Krise so etwas wie der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus ist.“ Unterstützung erhält Fratzscher aus dem Bereich der Soziologie: Auf der Frage, was uns die Corona-Krise als Gemeinwesen lehre, antwortet der Soziologe Heinz Bude der „Welt“: „Die Botschaft des Virus lautet: Der Neoliberalismus ist vorbei!“
Selbst im Handelsblatt findet man plötzlich unter dem Titel „Corona und das Ende der neoliberalen Weltordnung“ die These, dass „der Coronaschock den Neoliberalismus in eine letale Krise stürzen“ könnte, wenngleich sich die Begeisterung über eine solche Entwicklung beim „Handelsblatt“ in Grenzen halten dürfte.
Auch zwei MAKROSKOP-Autoren zählen zu den Optimisten: „Diese Krise bedeutet das Ende des Neoliberalismus auf allen Ebenen“, so etwa Stephan Schulmeister und ganz ähnlich Lee Jones: „Die neoliberale Orthodoxie wird mit atemberaubender Geschwindigkeit über Bord geworfen.“
Die Theorie der rationalen Erwartungen
Blicken wir zurück: Auch nach der globalen Finanzkrise und „Großen Rezession“, die im Jahr 2008 ausbrachen, wurde in zahlreichen Veröffentlichungen, Interviews und Diskussionen das Ende des Neoliberalismus prognostiziert. Zweifellos hätte die Krise auf den Finanzmärkten ohne ein aktives Eingreifen der Staaten in das Wirtschaftsgeschehen zu einer weltweiten Depression geführt. Vor allem die massiven Konjunkturprogramme in allen wichtigen Volkswirtschaften stabilisierten die Gesamtwirtschaft.
Die herrschende Lehre hatte zur Erklärung und zur Lösung von Finanzmarktkrisen nichts anzubieten: In der Sicht der Neoklassik sind deregulierte Finanzmärkte effizient und können mithin nicht zu Krisen führen. In den 1970er Jahren entwickelte sich in der traditionellen Volkswirtschaftslehre die sogenannte „Theorie der rationalen Erwartungen“ (Robert Lucas, Thomas Sargent, Robert Barro und andere) und setzte sich in den 1980er Jahren zunehmend durch. Nach ihr nutzen alle Individuen in einer Volkswirtschaft (Arbeitnehmer, Unternehmer, Konsumenten, Anleger) die gesamten verfügbaren Informationen, die ihnen von Wirtschaftsforschungsinstituten, Fachzeitschriften, Zentralbanken, Regierungen usw. bereitgestellt werden, und verarbeiten diese. Sie – Professoren ebenso wie ökonomische Laien – sind damit in der Lage, qualifizierte Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich wichtige ökonomische Größen wie Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit, Inflation, Löhne, Zinsen, Aktien- und Güterpreise etc. in der Zukunft entwickeln werden, und auf dieser Grundlage Kauf-, Anlage- oder Arbeitsentscheidungen vorzunehmen.[1]
Das verfügbare, umfassende Informationsmaterial allein reicht dabei nicht aus; es muss auf Basis eines ökonomischen Modells korrekt interpretiert werden. Angenommen wird von der Theorie der rationalen Erwartungen deshalb, dass alle Wirtschaftssubjekte bei ihrer Erwartungsbildung aus der Gruppe konkurrierender Modelle das „richtige“ auswählen – und es ist nicht schwer zu erraten, welches ökonomische Modell das relevante ist.
Nun räumen auch die Anhänger rationaler Erwartungen ein, dass die Wirtschaftssubjekte nicht allesamt über hellseherische Fähigkeiten verfügen, sondern sich einzelne Wirtschaftssubjekte mitunter irren können. Im Durchschnitt jedoch hätten die Individuen korrekte Erwartungen und seien in der Lage, die Zukunft richtig vorherzusagen.
Das heißt auch: Da die Wirtschaftssubjekte ihre Erwartungen in einer rationalen Weise bildeten, könnten sie jede (wirtschafts-) politische Maßnahme des Staates und das damit beabsichtigte Ergebnis antizipieren und ihr Verhalten entsprechend ändern, so dass der gewünschte Effekt der jeweiligen Maßnahme nicht eintrete. So könnten etwa die privaten Wirtschaftssubjekte staatliche Budgetdefizite voraussehen und prognostizieren, dass und wann der Staat in der Zukunft die Steuern anheben werde, um die mit den Defiziten aufgelaufene Staatsschuld zurückzuzahlen. Die Folge sei, dass die privaten Wirtschaftssubjekte ihre Ausgaben entsprechend reduzierten und sparten, um sicherzustellen, dass sie die zu erwartenden höheren Steuern zahlen könnten.
In dieser Logik vermag der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage überhaupt nicht zu steigern, weil jedes Budgetdefizit dazu führe, dass die Nachfrage der privaten Wirtschaftssubjekte in gleichem Umfang sinke. Jede Erhöhung der Staatsausgaben schlage sich sofort in einer Abnahme der privaten Ausgaben für Waren und Dienstleistungen nieder. Aufgrund der rationalen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte bleibe die Fiskalpolitik ohne Wirkung.
Die Effizienzmarkthypothese
Wendet man sich der Untersuchung der Finanzmärkte zu, so findet die Theorie der rationalen Erwartungen hier ihre Entsprechung in der Effizienzmarkthypothese (EMH). Nach Eugene Fama von der Universität Chicago, einem der Pioniere der EMH, agieren auf den Vermögensmärkten rationale Wirtschaftssubjekte, so dass die Vermögenspreise stets alle verfügbaren Informationen widerspiegeln. Das heißt, die Anleger verarbeiten beim Kauf und Verkauf von Vermögenswerten – beispielsweise Aktien – alle ihnen verfügbaren Informationen über den Wert einer Aktie in rationaler Weise. Aktien sind mithin immer korrekt bewertet. Ändert sich die Informationslage, so ändern sich die Aktienkurse.
Eine Konsequenz der Effizienzmarkthypothese ist, dass der Preis eines Wertpapiers überhaupt nicht (starke Form), zumindest aber nur geringfügig und nicht über eine längere Zeit (mittlere und schwache Form) von seinem fundamentalen Wert abweichen kann.[2] Im Ergebnis bedeutet dies nichts anderes, als dass sich nie Spekulationsblasen an den Finanzmärkten (d.h. längere Zeiten, in denen die Preise nicht die Fundamentaldaten widerspiegeln) entwickeln und somit Finanzkrisen unmöglich sind.
Das mag verrückt klingen, wurde aber explizit von Eugene Fama bestätigt, beispielsweise in einem Interview mit der FAZ. Auf die Frage, ob er nach der Finanzkrise immer noch an die Effizienz der Märkte glaube, antwortete er: „Ja. Der Markt ist rational, das glaube ich noch immer. Preise an Finanzmärkten spiegeln stets die verfügbaren Informationen wider.“ Gefragt, ob es denn keine irrationalen Preisübertreibungen gebe, lautete Famas Antwort: „Korrekt. Ich glaube nicht an Blasen.“ Im Übrigen sei – so Fama – die Finanzkrise durch eine „riesige Rezession“ ausgelöst worden. Wen stört da schon die Kleinigkeit, dass die US-Hauspreisblase schon mehrere Monate vor Beginn der Rezession platzte?
Eine kurze Zeit der Hoffnung
Für eine kurze Zeit schien es nach Ausbruch der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise so, also ob das ideologische Ende des Neoliberalismus eingeläutet worden sei. Der intensive Prozess der Deregulierung der Finanzmärkte sowohl durch nationale Regierungen als auch durch internationale Institutionen in den 25 Jahren zuvor – von der Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs in den 1980er und den 1990er Jahren bis hin zur Zulassung von hochspekulativen Hedgefonds durch Rot-Grün in Deutschland im Jahr 2004 – wurde auf einmal kritisch gesehen.
Vor allem aber zeigten die umfangreichen Konjunkturpakete, mit denen sich die großen Industrieländer und die wichtigsten Schwellenländer dem Einbruch entgegenstemmten, Wirkung: Schon ab dem Sommer 2009 und noch stärker im Jahr 2010 kam es zu einer weltwirtschaftlichen Konjunkturerholung. Wer wollte da noch ernsthaft die These vertreten, dass eine expansive Fiskalpolitik generell unwirksam ist? Wer wollte angesichts der Erfahrungen mit der Finanzkrise noch behaupten, dass es keine spekulativen Blasen an Finanzmärkten geben könne, dass vielmehr diese Märkte informationseffizient seien, sich selbst korrigierten und die Preise den tatsächlichen Marktwert widerspiegelten?
Nun war wieder von der Rückkehr des Staates, der Rückkehr einer aktiv steuernden Wirtschaftspolitik im keynesianischen Sinne oder einfach von der „Rückkehr des Meisters“ („Keynes – The Return of the Master“ lautet der Titel eines damals erschienenen Buches von Robert Skidelsky über John Maynard Keynes) die Rede. Jedoch stellt Mark Blyth mit Recht fest, dass „die globale Rückkehr von Keynes vom Anfang bis zum Ende nur ein Jahr dauern sollte“. Die Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise, nämlich der Anstieg der Staatsverschuldung, wurde schon bald in eine Staatsschuldenkrise umgedeutet, die angeblich ihre Ursache in verschwenderischen Staatsausgaben respektive einer verantwortungslosen Fiskalpolitik hatte.
In der Eurozone etwa wurde deshalb eine strenge Austeritätspolitik verlangt, flankiert durch sogenannte „Strukturreformen“, um die Flexibilität der Wirtschaft zu steigern. Dann identifizierte man eine weitere, allen Euro-Krisenländern gemeinsame Krisenursache: die gesunkene und damit unzureichende Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder. Die Lösung: Lohnsenkungen und eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsmärkte.
Spätestens mit Beginn der Eurokrise (ab 2010) wich damit die Hoffnung auf Überwindung des Neoliberalismus einer Ernüchterung. Auf wissenschaftlichem Gebiet symbolisiert die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften ausgerechnet an Eugene Fama im Jahr 2013 das neoliberale Rollback.
Ist diesmal alles anders?
Warum sollte das diesmal anders sein? Warum sollten die Chancen auf eine Abkehr vom neoliberalen Modell jetzt besser stehen? Zumindest auf den ersten Blick erscheint das wenig plausibel. Denn während sich die globale Finanzkrise eindeutig dem Wirtschaftssystem als solchem anlasten ließ, handelt es sich bei der Corona-Krise um einen von der Politik herbeigeführten wirtschaftlichen Stillstand. Zwar gab es bei der Finanzkrise Versuche, für ihre Entstehung allein individuelles Fehlverhalten verantwortlich zu machen (zockende, überbezahlte Banker bzw. einen Verfall der moralischen Werte verschiedener Finanzmarktakteure etc.), aber die systemischen Ursachen der Krise waren für viele Menschen offenkundig.
Das ist bei der gegenwärtigen Krise ganz anders: Auch wenn man konzedieren muss, dass der Staat in der Corona-Krise nicht anders (zumindest nicht grundlegend anders) agieren konnte, um den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten, bleibt dennoch unbestreitbar, dass er mit seinem Handeln – zumindest zu einem ganz wesentlichen Teil – die Verantwortung für den gegenwärtigen wirtschaftlichen Einbruch trägt. Somit erscheint es nur recht und billig, dass er den betroffenen Unternehmen und privaten Haushalten mit allen ihm verfügbaren Mitteln aus der Patsche hilft.
Warum aber sollte dies das Ende des Neoliberalismus einleiten? Ulrike Herrmann erklärt es so:
„Zwei Spitzenpolitiker brachten einst plastisch auf den Punkt, wie platt Marktradikale denken. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher ließ wissen: ‚Es gibt keine Gesellschaft.‘ In ihrem Weltbild existierten nur Individuen, die ausschließlich für sich selbst sorgen sollten. Auch US-Präsident Ronald Reagan hinterließ einen Spruch, der das neoliberale Denken treffend zusammenfasst: ‚Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems, die Regierung ist das Problem.‘ Der Staat sollte schrumpfen, auf dass der freie Markt übernimmt.“
Unabhängige Individuen aber gibt es nach Ulrike Herrmann genauso wenig wie den reinen Markt, von dem die Neoliberalen so gern erzählten. Eigentlich habe man schon nach der Finanzkrise 2008 erkennen müssen, dass es ohne einen starken Staat nicht gehe, aber da hätten die Neoliberalen noch einmal erfolgreich „ihre platte Theorie“ gerettet. Das sei jetzt bei der Corona-Krise nicht mehr möglich: Nun sehe jeder, dass der Markt nicht mit den ökonomischen Folgen eines Virus fertigwerden könne. Nicht von ungefähr riefen daher alle nach dem Staat.
Auch der Neoliberalismus braucht den Staat
Problematisch an dieser Argumentation ist zunächst, dass sie die antistaatliche Rhetorik des Neoliberalismus beim Wort nimmt. Hier ist aber große Vorsicht geboten:
Als Ideologie entspringt der Neoliberalismus in der Tat dem Wunsch, den Einfluss des Staates drastisch zurückzudrängen. In der politisch-ökonomischen Realität jedoch zeigt sich ein ganz anderes Bild: Hier hat der Neoliberalismus zunehmend mächtige, interventionistische, ja sogar autoritäre Staatsapparate hervorgebracht.[3] Man denke beim letztgenannten Punkt nur an die Erfahrungen in den 1970er Jahren in Lateinamerika – und hier speziell in Chile –, wo mehrere neoliberale Regimes durch Militäroperationen und Staatsstreiche errichtet wurden.
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass die Neoliberalen gegen den Staat sind und ihn so klein wie möglich halten wollen, auch wenn sie das nach außen hin so propagieren. Patrick Kaczmarczyk schreibt völlig zu Recht:
„Die Neoliberalen brauchen und wollen im Gegensatz zu den klassischen Liberalen einen starken Staat, der die notwendigen Institutionen bereitstellt und dafür sorgt, dass die parlamentarische Mitbestimmung so [gestaltet wird], dass sie trotzdem auch marktkonform ist‘ (Angela Merkel) – um es anders auszudrücken: dass die Demokratie den Profiten der Unternehmen nicht in die Quere kommt. Dies zu begreifen ist äußerst wichtig, denn auch wenn die Annahme weit verbreitet ist, dass der Staat der Feind der Neoliberalen sei, bleibt sie falsch. Der Staat ist das wichtigste Mittel für das neoliberale Projekt.“
Märkte sind soziale und institutionelle Konstruktionen, die Regeln und Regulierungen benötigen, um effektiv funktionieren zu können. Es braucht einen starken Staat, um diese Märkte einzuführen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Zu den Aufgaben eines solchen Staates zählen u.a. die Bereitstellung einer allgemeinen Infrastruktur, die Schaffung und Sicherung allgemeiner Rechtsverhältnisse, die Regulierung des sozialen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, die Herstellung der äußeren und inneren Sicherheit durch Militär und Polizei usw.
In diesem Zusammenhang sollte auch nicht vergessen werden, dass der Prozess der Neoliberalisierung nicht möglich gewesen wäre, wenn die Staaten ihn nicht mit entsprechenden Maßnahmen (Liberalisierung der Güter- und Kapitalmärkte, Deregulierung insbesondere der Finanzmärkte, Privatisierung öffentlicher Güter, Einschränkungen von Arbeitnehmerrechten, Kürzung von Sozialprogrammen usw.) aktiv gefördert hätten.
Das neoliberale Politikregime basiert – so lässt sich resümieren – also nicht auf einem Rückzug des Staates zugunsten des Marktes respektive auf einer Reduktion des Ausmaßes der staatlichen Intervention „an sich“, sondern vielmehr auf einer Intensivierung der staatlichen Intervention zugunsten des Kapitals.
Dies zeigte sich übrigens bereits bei den von Ulrike Herrmann erwähnten beiden Ikonen des Neoliberalismus – Margaret Thatcher und Ronald Reagan: Es kann keine Rede davon sein, dass die Regierungen Thatcher (1979-1990) und Reagan (1981-1989) ihre öffentlichen Ausgaben drastisch reduziert und Staatsdefizite vermieden, also die Rolle des Staates spürbar zurückgedrängt hätten. Nur in zwei Jahren (1988 und 1989) verzeichnete die Regierung Thatcher einen leichten Staatsüberschuss, ansonsten immer Defizite; die Regierung Reagan wies sogar ausschließlich Budgetdefizite auf.
Alles wie gehabt
Aber lassen die bis jetzt beschlossenen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise nicht doch auf einen fundamentalen Sinneswandel schließen? Nähren sie nicht tatsächlich die Hoffnung auf eine Rückkehr des keynesianischen Paradigmas oder zumindest auf den Beginn einer neuen, postneoliberalen Ordnung?
Schließlich werden bei den Rettungspaketen Größenordnungen erreicht, die lange Zeit völlig undenkbar waren: Die Europäische Zentralbank (EZB) erweiterte Anfang Juni 2020 den Umfang ihres PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) um 600 Milliarden Euro auf nunmehr 1350 Milliarden. Die EU-Staaten einigten sich im April auf ein Hilfspaket von 540 Milliarden Euro für Unternehmen, Kurzarbeiter und angeschlagene Staaten. Die EU Kommission schlug im Mai einen Fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Corona-Krise vor (500 Milliarden Euro als Zuschüsse und 250 Milliarden als Darlehen an die Mitgliedsstaaten). Und der Bundestag verabschiedete vor kurzem den zweiten Nachtragshaushalt für 2020, mit dem die für das laufende Jahr geplante Neuverschuldung auf fast 218 Milliarden Euro ansteigt.
Da erscheint es plausibel, die Position zu vertreten, dass alle neoliberalen Dogmen nunmehr hinfällig sind. Doch stellt Paul Steinhardt richtig fest: „Wer so argumentiert, der hat sich von den ‚astronomisch‘ großen Zahlen, mit denen man die ‚Rettungspakete‘ beschriftet hat, ins Bockshorn jagen lassen.“
In der Tat: Zum einen bestehen die Hilfen für Unternehmen zu einem bedeutenden Teil aus Krediten, was – wie Steinhardt ausführlich erläutert – aus gesamtwirtschaftlicher Sicht äußerst problematisch ist. Zum anderen lässt etwa die Begründung des Konjunkturpakets der Bundesregierung – das vom Grundsatz richtig, aber hinsichtlich des Volumens nicht ausreichend ist und inhaltliche Schwächen aufweist (die Wirkungen vieler Maßnahmen kommen zu spät oder sind zur raschen Konjunkturbelebung wenig geeignet) – Zweifel an einer über die Corona-Krise hinausgehenden Kehrtwende in der Fiskalpolitik und damit einem Abrücken vom Neoliberalismus aufkommen.
Finanzminister Olaf Scholz, der „Architekt“ des Konjunkturprogramms, rechtfertigt dieses mit der besonderen Situation eines durch staatliche Maßnahmen hervorgerufenen wirtschaftlichen Einbruchs und gelangt zunächst zu der richtigen Erkenntnis, dass man gegen die Krise nicht ansparen könne. Aber schon seine Äußerungen zu den Voraussetzungen des Programms zeigen, dass es sich dabei mitnichten um eine generelle Abkehr von neoliberalen Denkmustern handelt. Scholz in der Welt: „Unsere Haushaltspolitik ist genau darauf ausgelegt, solide zu wirtschaften, auch um im Falle einer schweren wirtschaftlichen Krise mit aller Kraft finanziell gegenhalten zu können.“[4]
Das Motto „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ bewahrheitet sich nach Scholz im Nachhinein in der Politik der „schwarzen Null“, an der er als Nachfolger von Wolfgang Schäuble eisern festhielt. Genauso argumentiert die CDU. Unter der Überschrift Beispiellose Unterstützung nur möglich dank solider Finanzen und Schwarzer Null heißt es bei ihr: „Die Kreditaufnahme ist dank unserer Politik der soliden Finanzen der vergangenen Jahre möglich. So konnten wir uns finanzielle Spielräume erarbeiten, die wir jetzt nutzen können, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzumildern“ (zur Unsinnigkeit einer solchen Argumentation siehe hier).
Die Logik, die dahintersteckt, ist klar: Nach Überwindung der Corona-Krise möglichst rasch zurück zur „schwarzen Null“ bzw. zur im Moment ausgesetzten Schuldenbremse (vgl. etwa hier und hier), um für die nächste etwaige Krise gewappnet zu sein.
Der absurde Tilgungsplan
Dass es sich bei dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung nicht um ein Abrücken vom Neoliberalismus handelt, wird auch an den Plänen zur Rückführung der zusätzlichen Staatsverschuldung deutlich: Vom Jahr 2023 an bis zum Jahr 2043 sollen die neuen Schulden zu jährlich gleichen Anteilen getilgt werden.
Das ist – man kann es leider nicht anders sagen – eine abstruse Idee. Die Rückzahlung von Staatsschulden erfordert Haushaltsüberschüsse. Der Staat müsste also 20 Jahre lang Überschüsse erzielen. Wie aber soll eine Volkswirtschaft robust wachsen, wenn der Staat dem Privatsektor fortwährend verfügbares Einkommen entzieht, indem er Budgetüberschüsse verzeichnet?[5] Sobald bei einem derartigen Versuch die Wirtschaft erlahmt, verschwinden die Überschüsse automatisch.
Erschwerend kommt hinzu, dass – wie Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker immer wieder zu Recht hervorheben – nicht nur in Deutschland der Unternehmenssektor seit geraumer Zeit von einem Netto-Schuldner zu einem Netto-Sparer geworden ist. Wenn aber zusätzlich zu den privaten Haushalten, die üblicherweise ein Überschusssektor sind, auch der Unternehmenssektor eines Landes positive Finanzierungssalden aufweist, führt dieses Finanzierungsplus des Privatsektors zu einem Problem: Nur bei einem Leistungsbilanzüberschuss des Landes erhält dann nämlich dessen Staatssektor den notwendigen Spielraum für einen Budgetüberschuss – solange der negative Finanzierungssaldo des Auslands den positiven Finanzierungssaldo des Privatsektors mehr als ausgleicht.
Kaum jemand wird aber ernsthaft glauben, dass Deutschland seine Leistungsbilanzüberschuss-Strategie auf Kosten vor allem seiner EWU-Partnerländer einfach noch zwanzig Jahre weiterführen kann. Das wird bereits am desolaten Zustand dieser Volkswirtschaften durch die Corona-Krise scheitern. Ebenso abwegig ist die Vorstellung, die Eurozone oder die EU insgesamt könnten sich durch hohe Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber dem außereuropäischen Ausland sanieren, denn das werden sich die anderen Länder nicht gefallen lassen.
Vor diesem Hintergrund ist es erschreckend, dass bei der Abstimmung über den genannten „Tilgungsplan“ ab 2023 nur drei Abgeordnete des Bundestages mit „Nein“ stimmten (bei 55 Enthaltungen).
Tatsächlich ist die vorgesehene Schuldentilgung überhaupt nicht notwendig: Denn der Staat kann seine Schulden, statt sie zurückzuzahlen, immer wieder refinanzieren, also alte Kredite bei Fälligkeit tilgen, indem er sie durch neue ersetzt (Roll-over). Die Vorstellung, dass die Schulden zurückgezahlt werden müssen und somit eine Belastung für die Steuerzahler darstellen, ist nicht korrekt. Staaten tilgen ihre Schulden bei Fälligkeit (via Ablösung auslaufender Staatsanleihen durch neue), aber sie zahlen äußerst selten ihre Schulden insgesamt zurück.[6]
Ein Blick in die USA mag hier hilfreich sein: Dort ist die US-Bundesregierung seit dem Jahr 1837 ununterbrochen verschuldet, hat mithin bereits 183 Jahre lang ihre Schulden nicht zurückgezahlt[7], ohne dass daraus irgendwelche Probleme entstanden wären.
Was folgt daraus?
Es ist verständlich, dass die umfangreichen staatlichen Hilfsmaßnahmen in der Corona-Krise auf den ersten Blick wie eine Abkehr vom Neoliberalismus erscheinen. Schaut man sich aber die Begründungen und die begleitenden Kommentare genauer an, so wird deutlich, dass sich wenig bis gar nichts geändert hat: Die Corona-Krise stellt in dieser Argumentation eine gravierende Störung des Wirtschaftssystems dar, eine Notsituation, auf die staatlicherseits entsprechend reagiert werden muss, nach deren Beendigung sofort wieder zum alten Status Quo zurückzukehren ist.
Dann gilt es, die „schwarze Null“, die das beherzte staatliche Eingreifen überhaupt erst ermöglicht hat, schnellstmöglich wieder zu etablieren und mit einem radikalen Tilgungsplan die Staatsverschuldung auf das alte, „erträgliche“ Maß zu reduzieren. Ob das gelingt – so erscheint es –, hängt allein vom Sparwillen der Wirtschaftsakteure ab, also der Bereitschaft aller, „(i)n den kommenden Jahren […] den Gürtel enger (zu) schnallen“ (zdf heute). Ein postneoliberales Zeitalter klingt anders.