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Wie alles anders sein könnte

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Meine Reise durch die verschiedenen Bereiche der menschlichen Existenz ist – zumindest auf dem Papier – vorerst zu Ende. Eine philosophische Übung aus der sicheren Basis der Selbstisolierung unter Corona-Bedingungen.  Nach nur einem Blick auf unseren Planeten würde ein Besucher aus dem Weltall sagen: ‚Ich möchte den Manager sprechen!‘  – William S. Burroughs Angekommen bin ich nur teilweise in der Klarheit. Vielmehr erscheinen mir die Ungewissheiten noch größer als zu Beginn. Vor allem wurde mir die Not der Menschen sehr viel stärker bewusst – die durch die Krankheit ausgelöste, ebenso wie die durch die Maßnahmen verursachte. Angekommen bin ich mitten unter den Menschen mit all ihren berechtigten Sorgen und mehr oder weniger emotionalen und kritischen Reaktionen

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Meine Reise durch die verschiedenen Bereiche der menschlichen Existenz ist – zumindest auf dem Papier – vorerst zu Ende. Eine philosophische Übung aus der sicheren Basis der Selbstisolierung unter Corona-Bedingungen.

 Nach nur einem Blick auf unseren Planeten würde ein Besucher aus dem Weltall sagen: ‚Ich möchte den Manager sprechen!‘  – William S. Burroughs

Angekommen bin ich nur teilweise in der Klarheit. Vielmehr erscheinen mir die Ungewissheiten noch größer als zu Beginn. Vor allem wurde mir die Not der Menschen sehr viel stärker bewusst – die durch die Krankheit ausgelöste, ebenso wie die durch die Maßnahmen verursachte. Angekommen bin ich mitten unter den Menschen mit all ihren berechtigten Sorgen und mehr oder weniger emotionalen und kritischen Reaktionen auf die Situation; beim Bauch gesteuerten und/oder politischen Widerstand gegen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten; bei den Befürchtungen, dass Bürgerrechte dauerhaft beschnitten bleiben könnten; bei der Empörung über Doppelstandards, schlechtes Krisenmanagement und unsinnige Maßnahmen.

Aber es gibt ja auch gelebte Solidarität und gegenseitige Unterstützung, großes Engagement beim Bewältigen der vielen kleinen und großen Probleme im Zusammenhang mit der jetzigen Krise, neue Formen der Kommunikation in Familien, Nachbarschaften, am Arbeitsplatz und in der Politik.

Und der Widerstand in Form der Massen-Unruhen, die von den USA auch in viele andere Länder übergreifen, scheint mir zu zeigen, dass die neoliberal ausgerichteten Staaten ihre Legitimität vielen Bürgern gegenüber verspielt haben. Nicht nur durch die Form, wie sie ihre Gewalt ausüben, sondern auch dadurch, dass sie sich völlig unzureichend um die Daseinsvorsorge in ihren Staaten kümmern. Es bleibt zu hoffen, dass die Proteste der Straße nicht verpuffen und sich die Verhältnisse noch weiter verschlechtern.

Leugner und Kirchgänger

Im ersten Teil der Serie schrieb ich, dass es keinen von uns gibt, der sich in dieser Situation nicht der Frage stellen müsste, wie wir mit der Gesundheitsbedrohung und all den Ängsten vor den möglichen Folgen der Krise umgehen sollen. Und was das richtige persönliche Verhalten uns selbst und den Mitmenschen gegenüber ist, welche Bedeutung wir in dieser Welt haben können und wollen.

Wie sehr das zutrifft, war mir zum Zeitpunkt des Schreibens nicht bewusst. Mich nicht mehr heraushalten zu können, mich trotz aller Unsicherheiten grundsätzlich zu einer Position zu den staatlichen Covid-19 Bekämpfungsmaßnahmen durchzuarbeiten und den Mut zu haben, diese zu vertreten, ist mir viel schwerer gefallen als gedacht; treten doch nun viele Menschen, deren Arbeit ich in anderen politischen Zusammenhängen sehr schätzen gelernt habe, und die ich ideell und materiell unterstütze, als – undifferenziert und salopp gesprochen – „Corona-Leugner“ auf.

Mit einer kritischen Haltung zu den Corona-Maßnahmen habe ich keine Probleme. Wohl aber mit der Glaubwürdigkeit der Argumentation. Aus meiner Sicht sieht ein glaubwürdiger politischer Ansatz folgendermaßen aus:

Es gibt einen Anfangsverdacht (chinesische Erfahrungen und zur Verfügung gestellte Daten), der einerseits sofortiges Handeln nahelegt, und andererseits zu fieberhaften Aktivitäten bezüglich Austauschs und Auswertung der sich ansammelnden Informationen führt. Im Zuge dieser sich ständig verändernden Datenlage passen die Verantwortlichen die Maßnahmen an. Ergebnisoffenheit bei der sorgfältigen Betrachtung der eintreffenden wissenschaftlichen Daten und experimentelles Handeln sind hierbei notwendig. Wenn sich dann der Anfangsverdacht als unbegründet herausstellen sollte, wunderbar. Leider ist zurzeit nicht garantiert, dass diese sorgfältige Betrachtung auch tatsächlich so geschieht, wie es nötig wäre.

Nicht glaubwürdig ist es hingegen, wenn grundsätzlich alle Daten nur dazu dienen sollen, die staatlichen Maßnahmen als überflüssig bzw. als Freiheitsberaubung darzustellen. Genauso, wenn das Ergebnis einer Routineuntersuchung zur Qualitätssicherung der Arbeit von Laboren als wissenschaftlicher Beweis dafür genommen wird, dass der PCR-Test nicht valide ist. Und dass dann die in der Laborprüfung gefundene Zahl von 1,4% falsch-positiven Ergebnissen, die alle möglichen Ursachen haben kann, unhinterfragt durch die Blogosphäre geistert. Diese Zahl genügt schon einem einfachen Plausibilitätstest nicht. Denn dann hätte man z.B. bei den Massentests in Wuhan (ca. 5 Millionen Testpersonen) nicht lediglich 56 Fälle pro 1 Million finden dürfen, sondern mindestens 14.000.

Da fange ich an, auch an der Glaubwürdigkeit der bisherigen Arbeiten dieser Menschen zu zweifeln – und das tut sehr weh. Insbesondere, als ich mir darüber bewusst bin, dass Leute wie ich umgekehrt ja plötzlich ebenso in ihrer politischen Haltung als unglaubwürdig gelten, und ich mich auch im persönlichen Umfeld fragen lassen muss, wo denn die kritische Frau geblieben ist, die früher mal mutig gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gegangen ist.

Schon geistert der Begriff der „Corona-Kirche“ durch die Welt. Und das erinnert an manche Diskussion zum menschengemachten Klimawandel, in der ja die sogenannten Leugner ähnlich unseriöse Methoden anwenden, weil sie die Maßnahmen gegen den Klimawandel aus vielen – teilweise auch nachvollziehbaren – Gründen ablehnen.

Am Ende hat das alles nur ein Ergebnis: Energie verpufft unproduktiv, anstatt dahin gelenkt zu werden, wo sie zu notwendigen Veränderungen führt.

Gaia und Medea

Welche Veränderungen sind notwendig? Die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaften. Denn ohne eine solche Transformation gewinnt Medea, die Mutter, die ihre Kinder tötet, die Oberhand über Gaia, die Mutter, die durch das Zusammenwirken unzähliger Organismen das ökologische Umfeld schafft, das alle Lebewesen dieser Erde nährt, über die ich im zweiten Teil meiner Essay-Reihe schrieb.

Nach der Medea-Hypothese katapultieren tektonische Prozesse und auch das Leben selbst die Erde immer wieder aus dem Gaia-Gleichgewicht hinaus und führen somit zur Zerstörung der Lebensgrundlagen, im Falle der Entwicklung der höheren Lebewesen also quasi zu kollektivem Selbstmord. Der Erfinder dieser Hypothese Peter Ward erläutert das an verschiedenen Beispielen. Für die Menschheit gibt es seiner Meinung nach Hoffnung: Weil wir ein Bewusstsein unserer selbst und unserer Sterblichkeit haben, haben wir die Chance – etwa mit Blick auf den Klimawandel – diese Selbstmordtendenz zu erkennen und einen anderen Weg einzuschlagen. Die menschliche Gemeinschaft kann sich zusammentun und geplant und koordiniert riesigen Gefahren trotzen, denen einzelne Personen, Sippen oder sogar Nationen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind.

Es muss gelingen, unsere Wirtschafts-, Sozial- und Staatsordnung so zu gestalten, dass kollektiv ein nachhaltiges Natur-Verhältnis gelebt wird. Aber nicht nur das, wir Menschen müssen den Frieden untereinander leben lernen. Bei Sonntagsreden ist das unbestritten. Es gibt die Charta der Vereinten Nationen, die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, es gibt internationale Übereinkommen zum Schutz der Umwelt und zur Bekämpfung des anthropogenen Klimawandels. Greta Thunberg hält in Davos und vor der UN Vollversammlung provozierende und applaudierte Reden, die Parteigrößen der Demokratischen Partei der USA und alle großen Globalen Player ergehen sich in Anti-Rassismus-Gesten.

Nur, was als Allgemeinwohl allgemein anerkannt ist, muss sich im Konkreten in einem niemals abgeschlossenen Prozess realisieren. Viele Einzelne müssen sich verbinden und verbünden zum gemeinsamen Handeln im Sinne des allgemeinen Guten. Wie soll das gehen?

Es wäre einfach, wenn die Grundannahme des Neoliberalismus wahr wäre, nämlich dass das Allgemeinwohl sich dadurch durchsetzt, dass jeder Einzelne egoistisch und selbst-optimierend handelt, also konsequent und rational sein Eigeninteresse verfolgt. Wie die Empirie zeigt, handeln die Menschen aber in der Regel nicht zweck-rational. Und man konnte auch feststellen, dass für viele Menschen Kooperation und das Achten auf das Wohl Anderer wichtige Handlungsmaximen darstellen.

Das Stadion als Mikrokosmos

Das Prinzip des optimalen Eigennutzes ist jedoch auch logisch nicht haltbar, wie schon ein einfaches Beispiel zeigt: Wenn einer im Fußballstadion aufsteht, kann er in jedem Fall das Geschehen auf dem Spielfeld besser verfolgen als diejenigen, die sitzen bleiben. Stehen aber alle Zuschauer im Stadion auf, verschlechtert sich die Sicht für (fast) alle. Dieser falsche Schluss von den Einzelteilen auf das Ganze heißt in der Logik „Trugschluss der Verallgemeinerung“.

Das Stadionbeispiel zeigt uns noch viel mehr. Zum Beispiel, dass es zu vereinfachend ist, nur den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft zu betrachten. Wir sind als Individuen auch immer Teil einer Gruppe – und so erweist sich das Einhalten der einfachen Regel sitzen zu bleiben im Stadion in der Umsetzung als recht unterschiedlich. Sitze ich im neutralen Zuschauerbereich, werden die Zuschauer hinter mir mich mehr oder weniger freundlich auf die Regel hinweisen, wenn ich mich im Eifer des Gefechts vergesse. Notfalls erscheint ein Ordner. In der Fankurve sieht das ganz anders aus, vielleicht gibt es nur Stehplätze, oder der Vorsänger bringt die Fans zum Aufstehen oder Hinsetzen, oder es gilt sowieso nur das Recht des Stärkeren, und die Ordner sorgen lediglich dafür, dass die Unordnung auf definierte Bereiche begrenzt wird. Und, sollte ich als Fan der Heimmannschaft im vollen Ornat in den Fanbereich der Gegner geraten, habe ich garantiert andere Sorgen als das strikte Einhalten der Sitzenbleibregel.

Das Stadion erweist sich als ausgeklügelter, gut geplanter und durchorganisierter Mikrokosmos, in dem die Betreiber alles tun, damit der Spielbetrieb so reibungslos wie möglich funktioniert. Unterschiedliche Interessen müssen erkannt, berücksichtigt und – notfalls auch recht nachdrücklich –austariert werden, damit alle Besucher, die Spieler und die Medien zufriedengestellt sind, denn sonst ist das Geschäftsmodell obsolet.

Das beginnt mit der baulichen Konzeption des Stadions und endet mit der konkreten Durchführung der Spiele: Jeder Spieltag gestaltet sich unterschiedlich, je nach Tabellenplatz der Mannschaften, Charakter der eigenen und besuchenden Fans, Wetter oder der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Lage. Und so muss ich mir auch als unbedarfte Zuschauerin, die garantiert nicht auf die Idee kommen würde, Klappmesser, Feuerwerkskörper oder Schnapsflaschen mit ins Stadion zu nehmen, die Taschen durchsuchen lassen.

Vom Stadion zurück zur Menschheit: Wir Einzelwesen sind tief verbunden mit unserer jeweils speziellen Gemeinschaft, ohne die wir nicht da wären und ohne die wir keinen Tag überleben könnten. Darüber hinaus sind wir in globale Prozesse eingebunden, die uns in einem Maße von der Weltgemeinschaft abhängig machen, das für die isolierten Gruppen der steinzeitlichen Jäger und Sammler unvorstellbar war. Der Reisbauer in China, dem der sprichwörtliche Sack Reis umkippt, ist uns weitaus näher als gedacht. Das Sich-Fügen in die Erfordernisse des – global verstandenen – Allgemeinwohls ist aus dieser Sicht eine Überlebensnotwendigkeit für den Einzelnen. Im Stadion-Beispiel zahlt sich dessen Sitzenbleiben durch bessere Sicht für alle aus. Der Einzelne fügt sich einer verständlichen Regel im Sinne des Allgemeinwohls und profitiert unmittelbar davon.

Aber was schon in der vergleichsweise kleinen Welt des Fußballstadions eine Herausforderung ist, ist es erst recht global. Es ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, welche Handlungsweise überhaupt die richtige im Sinne des Allgemeinwohls wäre. Nicht immer kann der Einzelne dies aus der Eingebundenheit in seine jeweilige gesellschaftliche Situation heraus erkennen, und eine Regel mag ihm oder ihr als völlig absurd erscheinen. Selbst wenn das nicht so wäre, könnte er diese vielleicht gar nicht beachten, weil sein unmittelbares Einzelinteresse oder Gruppenzwänge ihn daran hindern.

Sehr oft sind die Regeln, denen wir folgen sollen, aber eben gerade nicht – wie im Stadion – sinnvolle Teile eines durchdachten Gesamtkonzepts, sondern mehr oder weniger hilflose Versuche, eine drängende Situation zu bewältigen. Ein Bürgermeister aus Illinois schildert in einem Video anschaulich die Widersprüchlichkeit der Verordnungen zu Covid-19. Da fällt es schon schwer, Vertrauen in die dafür verantwortlichen Behörden aufzubauen.

Das Beispiel erinnert auch an die halbherzigen Versuche zum Eindämmen des Klimawandels. So spricht so gut wie niemand über die CO2-Emissionen der globalen Warentransporte. Kritisieren lassen muss sich allerdings die halbtags arbeitende Sekretärin, die vor der  Arbeit noch schnell ihre Kinder im alten Diesel zur KiTa bringt, und danach wieder abholt, weil der ÖPNV auf dem Lande zu unflexibel ist.

Ständig sind wir den Beschwörungen des allgemeinen Guten ausgesetzt, ob diese ehrlich sind, darf in vielen Fällen bezweifelt werden. Denn natürlich bemüht sich jede Interessengruppe darum, ihr Einzelinteresse als Allgemeininteresse zu verkaufen. Während die einen meinen, es sei im Sinne aller, sich gegen das Zwangsmaskentragen einzusetzen, erklären uns vielleicht die Pharmaindustrie, dass es ohne Zwangsimpfung nicht geht und die Informationsmonopole, das die dauerhafte Datenkontrolle uns alle schützt und uns unsere Bedürfnisse schon erfüllen kann, ehe wir sie selber kennen.

Insgesamt ist die Aushandlung des Allgemeinwohls ein Prozess im Widerstreit teilweise antagonistischer Interessen und somit auch eine Machtfrage. Das gilt für alle Lebensbereiche: jeder braucht Nahrung und Unterkunft – aber welche ist zu welchen Bedingungen für wen erhältlich? Wer wohnt im Palast, wer in der Hütte, wer auf der Straße? Gibt es für alle Brot, für einige wenige auch Kuchen, oder Brot und Kuchen für alle? Das Ziel ist klar: Am Ende soll es die Menschheit schaffen, so zu agieren, dass sie geplant und koordiniert ihr Überleben sichert.

Wir alle zusammen sollen den allgemeingültigen Prinzipien folgen. Diese wiederum sind jedoch nur durch die Zurückdrängung von Partikularinteressen einerseits und die Partizipation jedes Einzelnen und die Berücksichtigung von dessen Interessen andererseits zu realisieren – im täglichen Leben und im globalen Maßstab. Wenn die Gesellschaft nicht „liefert“, besteht für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder kein Grund, sich an die Regeln zu halten, die Vertragsgrundlage entfällt.

Kann man sich ein internationales und nationales politisches System, eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorstellen, wo das gelingt? Wäre dies nicht quasi die eierlegende Wollmilchsau? Und somit unmöglich? Oder beweist das Fußballstadion, dass es gehen kann?

Für mich ist das die riesige Aufgabe, die sich hinter dem Postulat, die Bevölkerungsmehrheit müsse „den Staat zurückfordern“ verbirgt. Ob das die Lösung ist, und wie das gehen soll, ist äußerst umstritten.

„Die Lobotomie wird nicht schön sein“

„Die wahrscheinlich wichtigste Lektion, die wir aus dieser Pandemie lernen werden, ist, dass wir daran arbeiten müssen, diese egoistische Mentalität zu ändern“. Ausgehend von diesem Satz des Bloggers ‚b‘ entspann sich eine hochinteressante Diskussion (alle Übersetzungen sind von mir), die das Spektrum, in dem wir uns bewegen, verdeutlicht:

Caliman warnt:

„Es ist wirklich traurig, so viele Menschen im Westen zu sehen, die so bereit sind, die Konzepte der individuellen Rechte und des Rechts auf Leben UND Freiheit UND des Strebens nach Glück für eine immer wirkungsvollere Herangehensweise an den Krieg gegen das Virus wegzuwerfen. Etwas, das man sich vor Augen halten sollte: Eine despotische Regierung, die Menschen unter Androhung von Gefängnisstrafen zwingen kann, drinnen zu bleiben, Masken zu tragen, Medikamente in den Körper zu stecken usw., kann (und wird) alle möglichen anderen Missbräuche begehen. Das Genie einer begrenzten und geteilten Regierung besteht gerade darin, eine Tyrannei zu verhindern, denn wie jeder Rückblick auf die Geschichte zeigen würde, sobald man ihr einmal den Weg bereitet hat, ist eine Tyrannei nicht mehr zu vermeiden.“

Der Kommentator psychohistorian schreibt:

„Was wir erkennen müssen, ist […] dass der Westen in Wirklichkeit unter der Diktatur eines Gesellschaftsvertrags lebt, der von denjenigen durchgesetzt wird, die das globale Finanzsystem beherrschen. Warum verstehen nicht mehr Menschen den Zivilisationskrieg, der zwischen der westlichen Welt der globalen, privaten Finanzindustrie und China im Verbund mit einigen wenigen anderen Ländern geführt wird, die einen alternativen Gesellschaftsvertrag vertreten, bei dem die öffentlichen Finanzen im Mittelpunkt stehen und der eher auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist?Die Antwort auf die Änderung der egoistischen Mentalität besteht darin, der Finanz-Elite die Grundlage zu entziehen und eine weiterhin bestehende, nicht-korrupte Regierung zu zwingen, Finanzmittel für öffentliche Versorgungsleistungen bereitzustellen, die das Gemeinwohl fördern.“

Stehen wir wirklich vor der Wahl zwischen neoliberaler Tyrannei unter dem Deckmantel der persönlichen Freiheiten und „guter“ Diktatur? Wie ermächtigt man eine Regierung, wirklich das Gemeinwohl zu fördern? Wie kann eine Regierung erkennen, was im Sinne des Allgemeinwohls ist, diese Erkenntnisse fortlaufend um- und durchsetzen und dabei auch noch das Vertrauen der Bürger erlangen?

Turm kommentiert:

Die wahrscheinlich wichtigste Lektion, die wir aus dieser Pandemie lernen werden, ist, dass wir daran arbeiten müssen, diese egoistische Mentalität zu ändern. Das ist der Kern des Problems. Aber die „Gehirn-Sperre“ des Neoliberalismus wird, ohne einen katastrophalen sozialen Zusammenbruch, kaum zu durchbrechen sein. Der Neoliberalismus ist das vorherrschende soziale Bedeutungssystem der „modernen“ kapitalistischen Gesellschaft, und er ist vollständig internalisiert worden (eingebettet in unsere sozialen Institutionen und sogar in unser individuelles Weltverständnis – nennen wir es ein Betriebssystem). Wir sind uns seiner Tragweite in unserem Leben kaum bewusst. Der Neoliberalismus ist ein Wirtschaftssystem. Er ist ein hierarchisches Gesellschaftssystem. Er ist ein erkenntnistheoretisches System. Und er ist ein alles durchdringendes kulturelles Bedeutungssystem. Als solches ist er eine Religion, die weitaus gefährlicher ist als die Altreligionen, die ausgedient haben. Wir können hoffen, dass das, was uns diese Pandemie über unsere Gesellschaft enthüllt, der Anfang vom Ende des Neoliberalismus ist, aber seine Tentakel sind überall eingebettet. Und die Lobotomie wird nicht schön sein.“

Wie man sieht, geht es nicht nur um Politik, sondern um unsere ganze Lebensweise – und damit um die ganz persönlichen Werte jedes Einzelnen.

Dieser Verstrickung entgeht keiner, besonders in Zeiten wie diesen. Wir alle haben die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen. Und wir sind auch ständig gezwungen, dies zu tun. Man kann sich vor lauter Angst vorm Sterben dafür entscheiden, nicht mehr am Leben teilzuhaben; man kann lernen, mit Ängsten umzugehen, indem man sich mit anderen Menschen zusammenfindet und um dabei vielleicht festzustellen, dass manche Ängste völlig gegenstandslos sind; man kann, umgekehrt, sich selbst im Wild-und-Gefährlich-Leben spüren. Und man kann Menschen oder Anliegen außerhalb seiner selbst als viel wichtiger ansehen als die eigene Existenz und sogar sein Leben für diese Dinge aufs Spiel setzen.

Die daraus resultierende Eingebundenheit in eine umfassendere Sinnhaftigkeit wäre das Mittel, das uns helfen könnte, mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und der damit verbundenen Kränkung umzugehen. Aber was für eine Sinnhaftigkeit soll das denn sein, in einer Welt, in der alle unsere Lebensbereiche gestört sind, unser Naturverhältnis genauso wie unser Verhältnis zur Wahrheitssuche, unsere Wirtschaftsordnung, unsere Staatsordnung und unser familiäres und gesellschaftliches Miteinander?

Sünde und Verantwortung

In meinem Einleitungsessay habe ich das Thema Sünde und Verantwortung angesprochen, was ich nun fast bereue. Denn es ist leicht zu sagen, dass Die Menschheit sich an der Schöpfung versündigt oder Die Gesellschaft an den Benachteiligten.

Schwerer ist es, wenn man Individuen oder gesellschaftliche Gruppen zur Verantwortung ziehen oder gar schuldig sprechen möchte. Bin ich schuldig, wenn ich mich aus jeglicher Politik heraushalten und mich nur noch um meine Familie und die schönen Dinge dieser Welt kümmern möchte? Bin ich schuldig, wenn ich mich für Interessen einsetze, die dem definierten Allgemeinwohl widersprechen, zum Beispiel für günstige Benzinpreise, um zur Arbeit zu kommen, wenn es keinen adäquaten öffentlichen Nahverkehr gibt? Bin ich schuldig, wenn ich vegan lebe, dafür aber jedes Jahr mit dem Flugzeug eine Fernreise unternehme? Sind die Kleinkriminellen der Ghettos, die der Polizeigewalt ausgesetzt sind, selber schuld, die Polizisten, die in einem allgemeinen Klima der Gewalt diese Leute töten, individuell verantwortlich? Und wieweit geht die ganze Sache in die Geschichte zurück – ist der weiße Durchschnittsamerikaner schuldig an den Verbrechen seiner Vorfahren an der amerikanischen indigenen Bevölkerung und dem Sklavenhandel? Ist der Abriss von Denkmälern eine angemessene Sühne? Und was ist mit Jeff Bezos, dem Chef von Amazon, der in der Krise Milliarden verdient, seine Arbeiter aber nicht fair behandelt und so gut wie keine Steuern zahlt? Wer ist dafür verantwortlich, dass wir unzureichend auf eine Pandemie vorbereitet waren?

Hat ein in ein System verstrickter Mensch eine persönliche Verantwortung? Ist dem Thema überhaupt mit Moral beizukommen oder geht es nicht vielmehr um Macht bzw. ums „Fressen“, bei dem die Moral bekanntlich aufhört? Diese Fragen sind so alt wie die Menschheit, und doch kommen sie immer wieder neu auf die Tagesordnung.

Und so bin ich wieder in der Verwirrung gelandet, mit mehr Fragen als Antworten. Aber vielleicht ist das ja gar nicht mal schlecht. Nicht nur bei den Diskussionen um Corona ist mir aufgefallen, dass wir sehr viel darüber reden, was nicht sein soll, was nicht geht, und wogegen wir uns wehren. Vielleicht sollten wir mehr darüber reden, was wir eigentlich wollen, und dazu Ideen entwickeln, wie es gehen könnte.

Nicht nur allgemein, sondern konkret mit allen Details: wie ein gutes Gesundheitssystem in demokratischer Hand, das nicht Profitinteressen unterworfen ist, aussehen könnte; wie soziale Sicherheit besonders in Krisensituationen zu gewährleisten ist; wie wir uns optimal um Familien mit Kindern oder unsere Alten kümmern können; wie die Arbeit in den Betrieben sinnvoll, effizient und befriedigend für die Mitarbeiter und im Sinne des Gemeinwesens gestaltet werden kann; wie unser öffentlicher Nahverkehr oder unsere Einkaufsmöglichkeiten optimiert werden können; wie sich unsere Kinder nicht nur zu nützlichen Idioten sondern zu umfassend gebildeten Menschen mit Freude an Kultur und Sport entwickeln können; wie unsere gebrechlichen Alten mitten unter uns bleiben können; wie wir den Verpackungsmüll verbannen und die Kontrolle über unsere Daten zurückbekommen; wie internationale Solidarität gelebt und die Zerstörung der Lebensgrundlagen anderer für unseren Konsum von Billigprodukten verhindert werden kann. Aus positiven Visionen ergeben sich vielleicht auch Schritte dorthin.

Vergessen wir dabei aber nie, angesichts aller drohender Gefahren unsere „Seele zu stärken, damit uns niemand unsere Lebensfreude, unsere wertvollen Erinnerungen, unsere ureigene Persönlichkeit und unser Lächeln nehmen kann, […] auch wenn uns vielleicht innerlich zum Weinen zumute sein mag“, wie der afroamerikanische Professor, Kulturschaffende und Aktivist Dr. Cornel West im Rolling Stone Interview betonte.

In einer Zeit, in der alles anders ist, ist es an der Zeit zu überlegen, wie alles anders sein könnte.

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