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Stabilität ist Bewegung

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Bewegung, Kommunikation und auch Berührung sind konstitutiv für die menschliche Gesundheit und Gesellschaft. Ihr Fehlen kann tödlicher sein als ein Virus. Komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften können sich nur durch den beständigen Austausch von Gütern und Menschen reproduzieren und entwickeln. Der Austausch von Gütern durch Geld ist zu einem entscheidenden Dispositiv privaten und staatlichen Handels geworden. Der Fluss ist konstitutiv. Er ist systemrelevant. Deshalb sind, wie Paul Steinhardt schon des öfteren betont hat, Bankenrettungen im allgemeinen Interesse durchaus geboten und müssen zudem auch kein Steuergeld kosten. Das Finanzkasino, also insbesondere den sogenannten Eigenhandel der Banken, kann man sicher schließen. Doch die essentiellen Aufgaben des

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Bewegung, Kommunikation und auch Berührung sind konstitutiv für die menschliche Gesundheit und Gesellschaft. Ihr Fehlen kann tödlicher sein als ein Virus.

Komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften können sich nur durch den beständigen Austausch von Gütern und Menschen reproduzieren und entwickeln. Der Austausch von Gütern durch Geld ist zu einem entscheidenden Dispositiv privaten und staatlichen Handels geworden. Der Fluss ist konstitutiv. Er ist systemrelevant.

Deshalb sind, wie Paul Steinhardt schon des öfteren betont hat, Bankenrettungen im allgemeinen Interesse durchaus geboten und müssen zudem auch kein Steuergeld kosten. Das Finanzkasino, also insbesondere den sogenannten Eigenhandel der Banken, kann man sicher schließen. Doch die essentiellen Aufgaben des Zahlungsverkehrs und des Kreditwesens müssen in einer Geldwirtschaft zwingend aufrechterhalten werden.

Die Bescheinigung von Systemrelevanz erhielt vor dem Hintergrund der Bankenrettung in der Finanzkrise die Bedeutung einer Legitimation für privilegierte Behandlung. Das sollte so nicht sein. Das Maß solcher Handlungen muss die Gewährleistung von vitalen Funktionen sein.

Völlig sinnlos ist die Inanspruchnahme von Systemrelevanz, wenn es nur darum geht, anständige Arbeitsbedingungen und Bezahlung einzufordern – weil man dadurch implizit zugesteht, etwas weniger systemrelevante Tätigkeiten hätten dies nicht verdient.

Das wussten die aufständischen Bauern und Theologen des 16. Jahrhunderts noch besser: »ain yetlicher tagwercker ist seyns lons wirdig« (12 Artikel 1525: 8. Artikel), steht in einem im Zuge der Bauernkriege entstandenen Dokument. Es ist das Erste seiner Art, das so etwas wie Menschenrechte einforderte und dem Sozialen dabei eine Schlüsselstellung zuwies.

Was als systemrelevant gelten kann, hängt von der Modellierung des Systems ab. Systeme sind kognitive Artefakte, die meist entworfen werden, um bestimmte Erkenntnisziele – meist weiterer, praktischer Ziele wegen – zu erreichen. Diesen entsprechend abstrahieren sie von vielen Zügen des Gegenstandes, um ganz bestimmte hervorzuheben.

Wenn der Fluss des Geldes und damit der Zahlungsverkehr und das Kreditwesen als Schlüsselaufgaben von Banken das Prädikat „systemrelevant“ verliehen bekommen, dann ergibt sich dies aus einer solchen Modellierung. Aus ihr lassen sich praktisch zielführende Handlungen ableiten, die weder die Steuerzahler belasten noch zur Gewährung ungerechtfertigter Boni und Profite führen müssen.

Sicher werden auch Dinge wie der Geigen- und der Sprachunterricht, Museen, Konzerte und Kinos systemrelevant, sobald sich die Systemmodellierung am Ziel der Erhaltung eines gewissen kulturellen Niveaus orientiert. Doch ist die Frage nach der Systemrelevanz einzelner Tätigkeiten für die nach den Arbeitsbedingungen und dem Lohn völlig irrelevant.

Nicht nur Klatschen vom Balkon

Der systemisch relevante Zusammenhang ist hier zunächst der von Löhnen und effektiver Nachfrage, der sicherstellen muss, dass das gesellschaftliche Produkt auch Abnahme findet. Relevant ist auch die öffentliche Moral: Eine Gesellschaft, die einer kritischen Größe ihrer Mitglieder die (materielle) Anerkennung versagt und sie vom gesellschaftlichen Leben ausschließt, verliert ihren Zusammenhalt. Damit kann nicht nur Klatschen vom Balkon gemeint sein.

Sowohl unter dem Aspekt der Erhaltung eines funktionsfähigen Wirtschaftssystems als auch dem moralischen – dass nämlich staatliches Handeln niemanden unverhältnismäßig belasten darf – besteht die Anforderung, einen hinreichenden Fluss von Einkommen aufrechtzuerhalten.

Dies gilt insbesondere für die geringen Einkommen und all jene, die in Folge der staatlichen Maßnahmen ihren Beruf bzw. ihre geschäftliche Tätigkeit nicht mehr ausüben können und keine Kompensationen erhalten. Die Konzerte, Geigen- und Sprachstunden, Reisen und Übernachtungen, Konzert-, Kino- und Gaststättenbesuche, die jetzt nicht stattfinden, werden nicht nachgeholt werden. Gleichgültig ob freiberufliche Künstler, studentische Aushilfskräfte, Veranstalter, Schausteller, Kino- oder Gaststättenbetreiber – all sie jetzt mit Krediten abzuspeisen oder gleich auf das ALGII zu verweisen, bedeutet, sie in den Ruin zu treiben.

Das denkbar größte systemische Risiko besteht aber nicht nur in diesen eher kleinen Dingen. Es reicht bis hin zur europäischen Ebene, wo Regierungen und Medien immer noch von der Fiktion ausgehen, man könne und müsse die Schulden, die jetzt aufgenommen werden, irgendwann zurückzahlen. Die deflationäre Entwicklung, die sich jetzt schon abzeichnet, würde dadurch verstetigt werden.

Von Null auf Öko?

Die Vorstellung, aus dem völligen Stopp heraus in die ökologische Transformation überzugehen – da sich doch nun gezeigt hätte, dass alles auch mit viel weniger gehe –, stellt gleichfalls eine gefährliche Illusion dar. Das Komfortlevel, das die meisten derzeit noch genießen, würde bei Fortsetzung des Stopps recht schnell auf allen Ebenen wachsendem Stress weichen.

Dass Reichweite, Umfang und Verdichtung des Personenverkehrs, der stofflichen und informationellen Flüsse, von denen die heutigen Gesellschaften abhängig sind, gefährliche Größenordnungen erreicht haben, ist keine wirkliche Neuigkeit. Die Corona-Krise, bzw. die insgesamt kopflose Reaktion der meisten westlichen Regierungen, machte dies lediglich für alle Augen offenkundig.

Beeindruckend ist auch die Einfalt deutscher Regierungs- und Wirtschaftskreise, wenn sie verlauten lassen, dass die Globalisierung – wenn sie die exzeptionelle deutsche Außenhandelsposition meinen – doch nicht reversibel sein könne, weil sie uns doch nütze. Wie lange sie brauchen werden, um zu bemerken, dass das alte Rezept, sich auf Kosten der Handelspartner aus der Krise zu retten, nicht funktioniert, ist offen.

Doch auch eine von so starken und beständigen Flüssen über so weite Distanzen abhängige Weltwirtschaft ist nicht nur lebensgefährlich fragil. Eben diese Flüsse und eine steigende Verdichtung beschleunigt die Ausbreitung von Infektionen und treibt die Überlastung sowohl der Rohstoffquellen als auch der Senken für ihren Abfall voran. Eine stabile Zivilisation, die befriedigende Verhältnisse für die Erdbevölkerung gewährleistet, wird auf solcher Grundlage nicht zu bauen sein.

Der Linksliberalismus sehnt die Autorität herbei

Die Frage ist, wie ein Übergang zu einer weniger fragilen, weniger auf Übernutzung von Ressourcen gebaute Konstellation vonstattengehen kann. Die neue Jugendbewegung F3, der diesbezüglich viel zugetraut wird, entblößt eine beängstigende Sehnsucht nach Weisung gebenden Autoritäten; so etwa deren Sprecherin Luisa Neubauer:

„Wir wissen, dass politischer Wille, wenn er denn da ist, Berge versetzen kann. Das erfahren wir in der Corona-Krise gerade hautnah. […] Wir hören ganz anders Experten zu. Ganz Deutschland hört dem Virologen Christian Drosten zu. Und das ist genau richtig. Man hört auf die Profis und man entwickelt ein Solidaritätsgefühl.“

Nein, politischer Wille kann keine Berge versetzen. Und weder lässt sich der geforderte globale Umbau der Industriegesellschaft per Verordnung durchsetzen wie der vorübergehende Stopp gesellschaftlicher Aktivitäten, noch gibt es dafür den Experten, dem man nur zuzuhören bräuchte. Ganz davon zu schweigen, dass die unidirektionale Kommunikation dabei völlig unangemessen ist.

Den Experten gibt es auch bei Corona nicht. Eine entsprechende Engführung des Beratungsprozesses dürfte wesentlich zur inadäquaten Reaktion der Regierung beigetragen haben. Auch wenn Franziska Heinisch, eine weitere F3-Sprecherin, meint, dass man in der Schule nur noch »kritisches Denken, Teamarbeit, Kreativität, Empathie« zu lernen brauche, weil Faktenwissen „jeder Computer schon heute schneller, lückenloser und detaillierter ausspucken kann“, gibt sich F3 als konformistische Bewegung zu erkennen.

Fakten aber sind nicht einfach gegeben. Kritisches Denken hat sich gerade in der Prüfung und Ordnung von Fakten zu bewähren. Und schöpferische Leistung ist immer die Variation und Neukombination von Vorhandenem, dessen Kenntnis sie voraussetzt. Davon scheint Heinisch nicht die leiseste Ahnung zu haben.

Zu den schlimmsten Nebenwirkungen der Corona-Krise gehört eine Überhöhung der Welle des Konformismus, die ohnehin schon am Anschwellen war. Sie nährt sich nicht zuletzt von einem Verfall kognitiver Fähigkeiten, wie er sich in den Äußerungen von Franziska Heinisch zeigt. Die linksliberale Publizistik wandelt sich – mit wenigen Ausnahmen – zur Gesinnungspolizei.

Die höhere Moral des Regierungshandelns

Paradigmatisch dafür ist ein Beitrag von Albrecht von Lucke, für den das Thema des Widerspruchs gegen die Regierungsmaßnahmen eindeutig „ein rechtes“ ist, mit dem „die höchst disparaten Wutbürger alle ihr jeweiliges Eigeninteresse verteidigen“. Wahre Linke wie von Lucke, so darf man annehmen, haben nur das höhere, allgemeine Interesse im Sinn. Selbstverständlich sei jetzt die Frage, wer „die richtigen Antworten“ gebe, um zu verhindern, „dass die Themen von Verschwörungsideologen gekapert werden“. Der Linksliberalismus sehnt die Autorität herbei, die uns aus der Corona-Krise führt.

Auch wenn von Lucke sich des V-Wortes nicht zu enthalten vermag, so übt er sich doch in der feineren Art der Ausgrenzung. Angesagt ist sonst mehr die grobe. Was die grobe mit der feinen Form des Umgangs mit den als Verschwörungstheoretiker markierten vereint, ist das Bewusstsein der Akteure, dass sie selbstverständlich das höhere, allgemeine Interesse und insbesondere hehre ethische Prinzipien verträten. Das höchste derselben natürlich, dass der Schutz des Lebens absoluten Vorrang habe.

Doch genau dieser Anspruch ist sofort als Lüge erkenntlich. Selbstverständlich geniest der Schutz des Lebens nirgendwo absoluten Vorrang. Wenn das so wäre, dann hätte man viel früher die wesentlichen Informationen beschaffen und viel gezielter handeln müssen, hätte man auch sofort die Fleischfabriken schließen und die Massenunterkünfte für die dort unter skandalösen Bedingungen arbeitenden Wanderarbeiter wie auch die für Flüchtlinge auflösen müssen. Weitere Themen wären die mangelhafte Krankenhaushygiene, die jährlich ebenfalls zehntausende Opfer fordert.

Die höhere Moral des Regierungshandelns wird oft zu unterstreichen versucht, indem man kontrafaktischen Aussagen Faktizität einfach unterstellt: Von Lucke spricht davon, dass  „Deutschland bei der Vorbeugung der Pandemie so erfolgreich war“ und zahlreiche Stimmen reden von Hunderttausenden und sogar Millionen, denen die Maßnahmen das Leben gerettet hätten. Sicher haben die Maßnahmen Wirkung gezeigt, denn in der Tat wäre es sehr merkwürdig, wenn sie keine Wirkung gehabt hätten. Doch bleibt die Frage, wie groß die war und in welchem Verhältnis sie zu den Nebenwirkungen steht.

Dazu müsste man außer den Nebenwirkungen den Verlauf des Infektionsgeschehens kennen, der ohne die Maßnahmen bzw. bei deren differenzierteren Gestaltung eingetreten wäre. Um von einem Erfolg zu sprechen, ist das Versäumnis frühzeitiger Vorsichtsmaßnahmen wie Reisekontrollen und der Absage von Großveranstaltungen zu offenkundig. Andererseits deutet zu vieles darauf hin, dass die viel zu spät und undifferenziert getroffenen aber einschneidenden Maßnahmen zu einem Zeitpunkt kamen, als die Infektionszahlen ohnehin zurückgingen.

Aufklärung

Die Frage nach der Angemessenheit der Maßnahmen steht im Raum und verlangt nach Aufklärung. Dabei geht es nicht nur um die vordergründigen, großmaßstäblichen wirtschaftlichen Folgen. Sondern auch um die zahlreichen Einzelschicksale – um Menschen, die ihr Einkommen verloren, die Schäden an ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit erlitten oder sogar ihr Leben verloren. Bewegung, Kommunikation und auch Berührung sind konstitutiv für die menschliche Gesundheit und insbesondere für die kindliche Entwicklung. Ihr Fehlen kann tödlicher sein als ein Virus. Doch genauso gefährlich oder auch tödlich kann es sein, mit anderen auf zu engem Raum zusammengesperrt zu sein.

Mit der Grippewelle des Winters 2017/18 stand der Tod von ca. 25.000 Menschen in Zusammenhang. Dieser Vorgang ging weitgehend unbemerkt an der Öffentlichkeit vorbei. Auch hier gilt wie beim Corona-Virus: Die Grippe-Viren waren wahrscheinlich meist nicht einzige, sondern mitwirkende Ursache des Todes. Maßnahmen wie sie jetzt gegen das Corona-Virus getroffen wurden, hätten, wenn sie rechtzeitig erfolgt wären, vielleicht einen bedeutenden Teil dieser Todesfälle vermieden.

Soll man also, um dem Anspruch Genüge zu tun, dass das menschliche Leben absoluten Vorrang genösse, in Zukunft alle paar Jahre die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben vollständig herunterfahren, um x-tausend Leben zu retten und dadurch y-tausend Leben schwer zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören?

Die sinnvollere Alternative würde doch darin bestehen, die Lebensbedingungen der besonders Gefährdeten – also vor allem der Alten, Armen und Kranken – zu verbessern. Nicht zuletzt auch darin, ein medizinisches und pflegerisches Betreuungssystem aufzubauen, das für diese Gruppen in der Nähe verfügbar ist und bei Gefahr auch besondere Schutzmaßnahmen implementieren kann. Aber das, so wird der erwartbare Einwand derer lauten, die jetzt den Vollstopp des Lebens verordnen und gutheißen, wäre natürlich nicht finanzierbar.

Es ist die grobe Irrealität des moralischen Vorwands, die wiederum die Frage nach der alternativen Agenda aufwirft. Ist die Aggression gegen abweichende Meinungen so heftig, deren Ausgrenzung so kompromisslos, weil der moralische Vorwand so haltlos und leicht durchschaubar ist?

In dem Maße, wie sich die wirtschaftliche Krise in Folge der Corona-Ereignisse verschärfen wird, nimmt auch die Legitimationskrise zu, die in dieser Konstellation lauert. Diese Legitimationskrise wird sich durch das Heraufziehen von Mauern gegen jegliche Kritik und die harte Ausgrenzung der Kritiker noch verschärfen. Die Burg, in die sich die Regierenden und die ihnen Beifall Zollenden quer durch die Parteien und Medien zurückziehen, wird es schon ob ihrer Starrheit an Stabilität mangeln. Sie wird bald Risse zeigen.

Albrecht von Lucke fragt schon mal vorsorglich, „zu welchem Opfer ist der Staat, aber vor allem auch der Einzelne bereit?“ Das ist die Obszönität des linksliberalen Juste Millieu, das – mit Home-Office im Eigenheim oder in der komfortablen Altbauwohnung – die letzten Wochen ganz gut überstand, während für andere die Welt zusammenbrach. Zu welchem Opfer dessen Mitglieder bereit sind, darf man gespannt sein. Wem es tatsächlich abverlangt wird, ist schon klar.

Eine Linke, die noch den Namen verdient, müsste sich langsam aus dem Polster ihres denkfaulen Konformismus lösen, und nachdrücklich nicht nur eine realistische Kompensation der angerichteten Schäden einfordern, sondern auch die Aufarbeitung der Geschehnisse und Unterlassungen der letzten Wochen. Letzteres kann sie auch schon selbst in Angriff nehmen.

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