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Kognitive Dissonanz in der Eurozone

Summary:
Die Realität des permanenten Ausnahmezustands wird von einer Debatte über Gesetzestreue verdrängt. Doch wer über die paradoxe Konstruktion des EURO nicht sprechen möchte, sollte über den „Notstand“ schweigen. Die Coronakrise liegt noch nicht recht hinter uns, da erklärt Paul Steinhardt, die Gefahr des Zusammenbruchs des Eurosystems nach 2012 und darüber hinaus rechtfertige keinesfalls die Verletzung des gesetzlichen (vertraglichen) Verbots der Staatsfinanzierung durch die EZB und ihr vom Bundesverfassungsgericht inkriminiertes Ankaufprogramm für Staatsanleihen der Eurostaaten. Für das Handeln staatlicher Institutionen nach dem Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ sei in der Demokratie kein Platz. Die Aussage ist – nicht erst seit Corona – fragwürdig. Denn

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Die Realität des permanenten Ausnahmezustands wird von einer Debatte über Gesetzestreue verdrängt. Doch wer über die paradoxe Konstruktion des EURO nicht sprechen möchte, sollte über den „Notstand“ schweigen.

Die Coronakrise liegt noch nicht recht hinter uns, da erklärt Paul Steinhardt, die Gefahr des Zusammenbruchs des Eurosystems nach 2012 und darüber hinaus rechtfertige keinesfalls die Verletzung des gesetzlichen (vertraglichen) Verbots der Staatsfinanzierung durch die EZB und ihr vom Bundesverfassungsgericht inkriminiertes Ankaufprogramm für Staatsanleihen der Eurostaaten. Für das Handeln staatlicher Institutionen nach dem Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ sei in der Demokratie kein Platz.

Die Aussage ist – nicht erst seit Corona – fragwürdig. Denn selbstverständlich kennt jedes demokratische Rechtssystem die Figur des rechtfertigenden Notstands, mit der der demokratische Gesetzgeber anerkannt, dass es außergewöhnliche Situationen gibt, in denen dem Normadressaten gesetzeskonformes Handeln nicht mehr abverlangt werden kann.

Die Tatsache, dass der EZB ein solches Notstandsrecht nicht ausdrücklich eingeräumt ist, ändert nichts an der Tatsache, dass Mario Draghis Diktum des „Whatever it takes“ der Sache nach die Ausrufung des geldpolitischen Ausnahmezustands für das Eurosystem bedeutete und dieser Ausnahmezustand bis heute und erst Recht nach Corona auf unabsehbare Zeit fortdauert.

Wenn die Dinge so klar liegen – wenn das System in Gefahr ist, werden die üblichen Regeln, die seinem Überleben entgegenstehen, obsolet –, warum spielt diese Argumentation dann in der juristischen Diskussion weder vor dem Bundesverfassungsgericht noch vor dem EuGH eine Rolle?

Warum zeigt sich insbesondere der EuGH so bemüht, das Ankaufprogramm der EZB als geldpolitischen Alltag innerhalb des Mandats der EZB darzustellen?

Wer in der Eurozone als Verantwortungsträger offen darüber spräche, dass die Anleihekäufe der EZB dem Notstand der bedrohten Existenz des Eurosystems geschuldet sind, müsste sofort sagen können, wann dieser Notstand wieder beendet und eine Rückkehr zur Normalität – wie sie in der Coronakrise selbstverständlicher Bestandteil der öffentlichen Debatte ist – erfolgen kann.

Die Wahrheit aber ist, dass Normalität in einem Währungssystem, das die Haushalte der Nationalstaaten und damit die nationalen Demokratien bewusst unter das Damoklesschwert der Finanzmärkte stellt, nicht existiert, sondern der Ausnahmezustand (dass Staaten mit eigenständiger Haushaltspolitik riskieren, aus dem Euro zu fliegen und damit das ganze System zum Einsturz zu bringen) im EURO gerade Programm ist. Der EURO ist Ausdruck der von Bundeskanzlerin höchstpersönlich heiliggesprochenen „marktkonformen Demokratie“.

Wer über diese paradoxe Konstruktion des EURO nicht sprechen möchte – und welcher guterzogene EUROpäer möchte das schon – darf folgerichtig das Wort Notstand nicht in den Mund nehmen, sondern muss krampfhaft so tun, als sei im EURO-System Normalität wie in anderen Währungssystemen möglich. Nicht die permanente Eurokrise ist der Skandal, sondern die Anleihekäufe der EZB zu ihrer Bewältigung.

Die Tatsache, dass die Debatte über die Realität des permanenten Ausnahmezustands vollkommen zu Gunsten einer Debatte über Gesetzestreue verdrängt wird, ist politisch verheerend und Ausdruck einer beispiellosen geistigen Stagnation.

Statt Brüning als Galionsfigur des EURO zu verjagen, hat die Politik das Zepter wirtschaftspolitischer Verantwortung freiwillig aus der Hand gegeben und widmet sich mangels Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ganz dem Kampf zwischen Gut und Böse. Politik als Sandkastenspiel.

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