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Identitätspolitik und der neue Geist des Non-Konformismus

Summary:
Einseitig eine Reformlinke gegen eine Kulturlinke auszuspielen, ist ein Fehler. Ein Plädoyer für wechselseitige Befruchtungen. Dieser Text stellt den Versuch einer Quasi-Replik auf die ››Identitätspolitik und [den] neue[n] Geist des Kapitalismus‹‹ von Sebastian Müller dar. ›Quasi‹, da er – anders als bei Repliken üblich – die Hauptthese des Ausgangstextes zumindest als dystopische Möglichkeit teilt: Identitätspolitik könnte dazu beitragen, grundlegende Kritik an sozialen wie ökonomischen Verhältnissen weiter an den Rand zu drängen und somit – intendiert oder nicht – affirmierend wirken. Allein: eine Möglichkeit schafft noch keine Tatsachen. Daher werde ich im Folgenden dafür plädieren, nicht einseitig eine – frei nach Heisterhagen – Reformlinke gegen eine Diskurs-

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Einseitig eine Reformlinke gegen eine Kulturlinke auszuspielen, ist ein Fehler. Ein Plädoyer für wechselseitige Befruchtungen.

Dieser Text stellt den Versuch einer Quasi-Replik auf die ››Identitätspolitik und [den] neue[n] Geist des Kapitalismus‹‹ von Sebastian Müller dar. ›Quasi‹, da er – anders als bei Repliken üblich – die Hauptthese des Ausgangstextes zumindest als dystopische Möglichkeit teilt: Identitätspolitik könnte dazu beitragen, grundlegende Kritik an sozialen wie ökonomischen Verhältnissen weiter an den Rand zu drängen und somit – intendiert oder nicht – affirmierend wirken.

Allein: eine Möglichkeit schafft noch keine Tatsachen. Daher werde ich im Folgenden dafür plädieren, nicht einseitig eine – frei nach Heisterhagen – Reformlinke gegen eine Diskurs- und Kulturlinke auszuspielen sondern wechselseitige Befruchtungen zu ermöglichen. Identitätspolitik bzw. Diskurs- und Kulturlinke wird hier – wie wohl auch im Ausgangstext – als inhaltliche Chiffre für Politiken und Konzeptionen rund um ›race‹ und ›gender‹ sowie als prozessuale rund um Diskurse verstanden.

Bei der Rezeption des Textes von Müller werde ich weder eine Engführung an seinem Text noch an der diesem zu Grunde liegenden Interview mit Paul B. Preciado vornehmen. Stattdessen lohnt ein näherer Blick auf die identitätspolitischen Diskurse und ihre Rolle in Bezug auf neoliberale Regime und die Kritik hieran. Diesen untergliedere ich in drei Themenbereiche: Diskursive Wirkmächtigkeit identitätspolitischer Themenstellungen sowie Konstruktion von Körpern in Bezug auf Geschlecht und Lebensstil.

Die Wirkmächtigkeit in öffentlichen Diskursen scheint zwischen Reform- und Kulturlinker tatsächlich überraschend einseitig verteilt: Wer einen näheren Blick auf Felder wie die gesellschaftliche Organisation der Ökonomie, Arbeitsbedingungen und soziale Ungleichheit wirft, reibt sich ob des Erfolges identitätspolitischer Diskurse häufig verwundert die Augen. Auch während des aktuellen Krisenszenarios rund um Covid-19 ist der letzte Applaus für schlecht entlohnte und unter prekären Bedingungen tätige Pflegekräfte noch nicht verklungen, da hob anstelle einer sozialpolitischen einmal mehr eine identitätspolitische Erregungswelle an.

Verschwiegen werden sollte allerdings nicht, dass auch diese wohl – und vor allem: sehr tragisch – begründet war. Der Todesfall von George Floyd brachte das Problem der Polizeigewalt, die in den USA vor allem gegen Afroamerikaner aus der Unterschicht verübt wird und somit ein virulenter Bestandteil des strukturellen Rassismus ist[1], zurück in die Diskussion. Zur Emotionalisierung dieser trug bei, dass die Szene, die zum Tod von George Floyd führte, gefilmt wurde und viral ging. Dabei kniete ein weißer Polizist knapp 9 Minuten auf dem Genick George Floyds und ignorierte seine Hinweise, nicht atmen zu können ebenso wie den Protest von Passanten. Die sich daraufhin entladenden Proteste rund um die Black Lives Matter Bewegung wurden von Donald Trump als linksradikaler Terror diffamiert und dadurch weiter angestachelt und zunehmend globalisiert.

Rassismus und Klassenzugehörigkeit zusammendenken

Ausgehend von dieser Ausgangslage stellen sich die Fragen, ob die beiden Interventionen in Konkurrenz zueinander stehen und sich in ihrer Wirkmächtigkeit behindern. Ersteres kann in Bezug auf eine ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ postuliert werden, steht jedoch auf tönernen Füßen, da vielerlei politische Diskursstränge nebeneinander existieren. Insbesondere die Internetauftritte von Zeitungen und politischen Magazinen sind voll von nicht-politischen Inhalten. Im Dickicht von ernsthaftem politischem Journalismus, Meinungsmache und Lifestylethemen in den abstrusesten Überhöhungen wäre wohl für die Aufwertung ›systemrelevanter‹ Arbeit und strukturellen Rassismus Platz (gewesen).

Außerdem fragt sich, ob Aktionen wie das Klatschen für Pflegekräfte oder das Posten eines schwarzen Bildes auf Instagram den kolportierten Adressaten wirklich helfen und ob beide Diskurse – selbst in ernsthafteren als den vorgehend skizzierten Formen – nicht Leerstellen an der jeweils ›anderen Seite‹ aufweisen. Wer sich schlechte Entlohnung und prekäre Arbeitsbedingungen von Pflegekräften erklären will, sollte in seinen Überlegungen den Stellenwert von Reproduktionsarbeit und von sogenannten ›Zuverdienst-Berufen‹ (sic!) im Sinne der gesellschaftlich noch immer gängigen geschlechtlichen Arbeitsteilung mitberücksichtigen.

Und wer Polizeigewalt gegen Afroamerikaner – allen voran aus der Unterschicht – kritisieren will, sollte ebendies tun und hierfür Rassismus und Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit zusammendenken, statt einseitig letztere auszuklammern und dann ganz schnell bei Benennungsfragen und Ähnlichem anzukommen.

Kurz zusammengefasst: beide Perspektiven erscheinen bei aller Relevanz der adressierten Themenstellungen verkürzt: die schichtspezifische Schlechterstellung von ›people of colour‹ ist ein wesentlicher Teil des strukturellen Rassismus ebenso wie der Umgang mit Reproduktionsarbeit und Sexismus erklären hilft, warum mit manchen Berufen nicht viel mehr als Pathos zu verdienen ist.

Subjektpotenziale – oder der Versuch, die eigene Lebenswelt zurück zu gewinnen

Die zwei weiteren Kritikpunkte Müllers richten sich an die Thesen der Konstruktion von Geschlecht und an Praktiken, mit denen Körper im Sinne eines postulierten Individualismus verändert werden. Auch hier bildet die Skizze zu großer medialer Aufmerksamkeit – diesmal auf den Themenbereich Gender und insbesondere auf Transsexualität – den Ausgangspunkt. Und tatsächlich erfährt das Topoi nach Jahrzehnten des Ignorierens oder Diffamierens transsexueller Menschen in der massenmedialen Öffentlichkeit eine zunehmende Aufmerksamkeit, die mit der empirischen Verbreitung nur schwer begründet werden kann.

Andererseits aber: Für was genau an kritischer Sozial- und Wirtschaftspolitik ist dies nun negativ? Abgesehen davon, geht es – auch laut Müller – ja nicht nur um Transsexualität, sondern auch um nicht-heterosexuelles Begehren (rund 7,4% der Menschen in Deutschland) und ein Unbehagen an vereinseitigenden Geschlechterkategorien (rund 12% der Millenials der USA, beide Werte zitiert nach Müller).

Der hier adressierte kritische Blick auf Geschlecht verweist schlicht darauf, dass vieles, was uns ›natürlich‹ erscheinen mag, seinen Ursprung in gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen hat – und dies trifft auf Intersexuelle, die bei der Geburt (früher) einer Geschlechtskategorie ›zugewiesen‹ wurden ebenso zu wie auf ein Unbehagen hinsichtlich geschlechtlicher Zuschreibungen legitimer Präferenzen und Kompetenzen.

Die Prekarisierung der Pflegearbeit speist sich beispielsweise nicht zuletzt aus der weitgehenden Missachtung ihrer durchaus komplexen Tätigkeitsbestandteile. Statt fachlicher Kompetenzen und hoher Verantwortung oder dem großen Bedarf an Körperkraft stehen häufig Aspekte wie das Kümmern, Behüten und menschliche Nähe im Mittelpunkt, die dann als ›natürliches Bedürfnis‹ der – empirisch zumeist, im Narrativ stets – weiblichen Pflegenden uminterpretiert (man könnte auch sagen: zurechtgelogen) werden.

Ausgehend von Geschlechtsangleichungen konnotiert Müller nun Praktiken der Körperformung als individualisierend und als Beitrag zum ››geschlechtslosen Unternehmer seiner Selbst‹‹. Die der Interpretation wohl zu Grunde liegenden Prozesse sind vielfältig, haben jedoch eine gemeinsame Stoßrichtung: die zunehmenden und zumeist unhinterfragten Übergriffe der Erwerbsarbeit in die Lebenswelt. Beschäftigte sollen zunehmend – vormals ignorierte oder gar negierte – Subjektpotenziale in Arbeitsprozesse einbringen (Subjektivierung von Arbeit), sie sollen ihre Arbeitskraft ganz nach Bedarf flexibel zur Verfügung stellen und darüber hinaus auch ihre Freizeit nach Maßgabe der Arbeitswelt gestalten (Entgrenzung von Arbeit).

Ob letzteres nun tatsächlich zu einer Ablehnung beliebiger (angeblich individualisierender) Körperpraktiken führen sollte, erscheint fraglich. Mir erscheinen nicht die Praktiken selbst, sondern vielmehr die Direktive kritikabel, diese seien wie selbstverständlich im Sinne einer möglichst umfassenden Reproduktion des individuellen Arbeitsvermögens auszugestalten. Ob jemand beispielsweise Joggen geht oder ins Fitnessstudio, ist ebenso wenig Gegenstand meiner Kritik, wie die Frage, ob und in welchem Maße diese Praktiken identitätsstiftend wirken.

Die Selbstverständlichkeit der Anforderung, Sport (wie alles andere auch) habe mit ›Maß und Ziel‹ zu erfolgen und dieses Ziel sei selbstredend kein anderes, als sich möglichst fit für den nächsten Arbeitstag zu machen, ist, was Hobbysportler zu ›Unternehmern ihrer selbst‹ macht. Der Marathonläufer wie der Bodybuilder wären in dieser Lesart damit Widerständige. Nonkonformisten, die es wagen, Sport um seiner selbst willen in Extremformen hinein zu steigern, die nicht mehr mit der Fitness für die Arbeitswelt begründet werden können. Mit dieser Art Nonkonformismus lassen sich keine sozialpolitischen Reformen durchführen. Er stellt jedoch zumindest den Versuch dar, sich die eigene Lebenswelt wieder anzueignen. Und auch arbeitspolitisch ist der Versuch, die eigene Lebenswelt zurück zu gewinnen, teils erfolgreich – beispielsweise in Bezug auf Urteile zur Anrechnung von Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit oder Diskussionen um ständige Verfügbarkeit mittels Email und Co.

Derangierter politischer Kompass

Diese wenigen Beispiele sollen deutlich machen, wie das (partielle) Zusammendenken der beiden adressierten Perspektiven fruchtbarer sein kann als ein bloßes in Konkurrenz setzen. Neben dem in MAKROSKOP bereits unternommenen Versuch, die Wirkmächtigkeit des einseitigen Digitalisierungsdiskurses nachzuzeichnen, kann an dieser Stelle beispielhaft die diskursive Umdeutung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerrollen genannt werden, die es erst erlaubt, in der Genese von Mehrwert eine Spende an Arbeitsplätzen zu sehen.

Zu kurz gekommen sind hier – wie auch bei Müller – die Produktion und deren Stellenwert selbst. Auch an dieser lässt sich aufzeigen, wie beiden Perspektiven zusammengedacht werden können – und was passiert, wenn dies nicht geschieht. Der Produktionsstandort Deutschland stirbt seit Jahrzehnten – trotz vielfacher empirischer Widerlegung dieses Unsinns – diskursiv geschätzte fünf Mal pro Tag.

Dieses Dauerfeuer interessierter Kreise wie ahnungsloser Mitläufer hinterlässt deutliche Spuren: in Tarifverhandlungen ebenso wie bei der Berufswahl oder im Verschwinden des Produzentenstolzes. An dessen Stelle tritt bedauerlicherweise immer wieder auch das Ressentiment, dass sich in der Abwertung anderer Gruppen und einem derangierten politischen Kompass niederschlägt.


[1] Horace, Matthew (2019): Schwarz, blau, Blut. Ein Cop über Rassismus und Polizeigewalt in den USA. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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