Wiederholt hat der Sachverständigenrat zur Corona-Krise Stellung genommen, jüngst in dem Beitrag „So kann sich die Wirtschaft erholen“. Doch es ist nicht zu erkennen, dass er aus seinen Fehlern lernt. Stattdessen liefert seine Beratung Sprengstoff für die Währungsunion. In seinem Sondergutachten zur wirtschaftlichen Entwicklung vom 22. März 2020 hatte der Sachverständigenrat (SVR)[1] drei Szenarien vorgestellt, „die auf unterschiedlichen Annahmen über Ausmaß und Dauer der Beeinträchtigungen durch das Virus sowie über die darauffolgende Erholung basieren“ (Ziffer 3). Im Basisszenario wurde für das Jahr 2020 ein Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 2,8 Prozent vorhergesagt. Es wurde als das wahrscheinlichste Szenario bezeichnet. In zwei alternativen
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Wiederholt hat der Sachverständigenrat zur Corona-Krise Stellung genommen, jüngst in dem Beitrag „So kann sich die Wirtschaft erholen“. Doch es ist nicht zu erkennen, dass er aus seinen Fehlern lernt. Stattdessen liefert seine Beratung Sprengstoff für die Währungsunion.
In seinem Sondergutachten zur wirtschaftlichen Entwicklung vom 22. März 2020 hatte der Sachverständigenrat (SVR)[1] drei Szenarien vorgestellt, „die auf unterschiedlichen Annahmen über Ausmaß und Dauer der Beeinträchtigungen durch das Virus sowie über die darauffolgende Erholung basieren“ (Ziffer 3). Im Basisszenario wurde für das Jahr 2020 ein Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 2,8 Prozent vorhergesagt. Es wurde als das wahrscheinlichste Szenario bezeichnet. In zwei alternativen „Risikoszenarien“ errechnete der SVR einen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von 4,5 bzw. 5,4 Prozent. Die voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung in Deutschland dürfte erheblich schlechter ausfallen.
Lars Feld, der Vorsitzende des SVR, verteidigte in einem Interview mit der FAZ Mitte Mai die Fehleinschätzung mit dem Satz:
„Der Sachverständigenrat hat keine Prognose erstellt, sondern Szenarien-Rechnungen vorgelegt, die von bestimmten Annahmen ausgingen.“
Selbstverständlich gehören zu den Charakteristika jeder Prognose Annahmen, auf die der Prognostiker seine Überlegungen aufbaut. Insofern macht er immer bedingte Aussagen: „Wenn der Ölpreis / der Wechselkurs / der Zinssatz der Zentralbank in den nächsten Monaten …, dann… „. In diesem Fall „Wenn die Shutdown-Maßnahmen so und so lang anhalten, dann …“.
Doch bezieht der Prognostiker das eigentliche Gebiet, über das er eine Aussage treffen soll, mit in die Kategorie der Annahmen mit ein, bewegt er sich hart am Rand zur Tautologie. Der SVR hat, so muss man seinen Vorsitzenden verstehen, unter der Annahme, dass sich die Wirtschaft ab dem dritten Quartal rasch erholt, ausgerechnet, dass sie dann im Jahr insgesamt nur um 2,8 Prozent einbricht. Diese Information verliert aber fast jeden Beratungsgehalt, wenn die Sachverständigen die rasche Erholung lediglich sozusagen formal voraussetzen und durchrechnen, diese Annahmen aber nicht für gut begründet halten.
Wenn die wirtschaftliche Erholung ab dem dritten Quartal keine Prognose, sondern nur eine Annahme sein sollte, heißt das auf den Kern reduziert nämlich nur, dass der SVR feststellt, die Wirtschaft erhole sich, wenn sie sich erholt. Aufschlussreich und damit für politische Entscheidungsträger hilfreich wird ein solches Gutachten erst da, wo erklärt wird, welcher Mix von Annahmen, die mehr oder weniger außerhalb des wirtschaftlichen Geschehens selbst liegen, welche Wirkungen auf die Wirtschaft voraussichtlich haben wird.
Die Wirklichkeit überholt die Szenarien des SVR
Den Annahmenmix zu variieren, um eine Bandbreite möglicher Entwicklungen abzustecken, ist gerade in der gegenwärtigen außergewöhnlichen Krisensituation ein probates Mittel für Prognosen. Und so hat der SVR die genannten zwei weiteren Szenarien durchgerechnet. Sie gelten, wie gesagt, inzwischen jedoch kaum noch als realistisch, was Lars Feld in dem Interview bestätigt:
„Und selbst das ist angesichts der ersten harten Zahlen zu optimistisch.“
Wenn die negativste Entwicklung für das Jahr 2020, die der SVR im März für möglich hielt, bereits nach zwei Monaten mehr oder weniger obsolet ist, muss man sich fragen, was beim Prognostizieren schiefgelaufen ist. Liegt es in erster Linie an zu optimistischen Annahmen hinsichtlich der Dauer und Schärfe der Shutdown-Maßnahmen oder liegt es eher daran, dass ihre Folgewirkungen auf die Wirtschaft falsch eingeschätzt wurden?
Für das Basisszenario hatte der SVR „zur Abschätzung der Folgen für das BIP-Wachstum unterstellt, dass die Einschränkungen von Mitte März bis Mitte Mai anhalten.“ (Ziffer 50) Das war zu optimistisch angesetzt, wie wir heute wissen, aber dafür ist der SVR nicht zu kritisieren. In den beiden anderen Szenarien wird davon ausgegangen, dass „Produktionsstätten länger geschlossen werden als derzeit geplant“ (Ziffer 62) und „die verschiedenen Einschränkungen sozialer Aktivitäten bis in den Sommer gelten“ (Ziffer 63). Das beschreibt die gegenwärtige Situation recht gut. Nur die unter diesen Annahmen berechneten BIP-Prognosen fallen trotzdem zu positiv aus.
Also hat sich der SVR bei den Folgewirkungen verschätzt. Das ist wenig verwunderlich, weil das neoliberale Wirtschaftsmodell, auf das der Rat gedanklich vermutlich zurückgreift, auf einer eher mechanistischen Vorstellung aufbaut. Die kennt keine echte Dynamik (vgl. den Artikel Ausverkauf des Sachverstands vom 15.4.2020) und beschäftigt sich stattdessen mit Gleichgewichten, bei denen die vorhandenen realwirtschaftlichen Produktionsfaktoren „Arbeit“ und „Kapitalstock“ miteinander kombiniert werden (vgl. Die monetäre Brücke über den Corona-Abgrund vom 4.4.2020). Die Erwartungsbildung der Wirtschaftsakteure, ihr Anpassungsverhalten und die sich daraus ergebenden Spillover-Effekte werden bestenfalls erwähnt, aber in der Prognose offenbar nicht hinreichend systematisch berücksichtigt.
Systematische Fehleinschätzung beruht auf Modellwelt
Das hat auch viel damit zu tun, dass im neoliberalen Bild der Wirtschaft die Selbstheilungskräfte des Marktes zentral sind und dem Staat nicht die Rolle des Krisenmanagers zugestanden wird. Eine Abwärtsspirale kommt in dieser Gedankenwelt von allein zum Stillstand, sobald die Kapazitäten so stark geschrumpft sind, dass sie die gefallene Nachfrage wieder einholen. Schon in „normalen“ Konjunkturabschwüngen ist diese Vorstellung sehr fragwürdig, um nicht zu sagen falsch. Aber in einer Krise wie der gegenwärtigen, die nichts mit einer vorausgegangenen konjunkturellen Überhitzung zu tun hat, führt sie geradewegs in die Irre.
Der SVR schreibt in seinem Gutachten zwar, dass „zu beachten [ist], dass dieser Einbruch durch einen exogenen Schock entstanden ist und nicht durch wirtschaftliche Ungleichgewichte“ (Ziffer 66). Aber die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, „Langwierige Anpassungsprozesse könnten daher diesmal nicht notwendig sein“ (Ziffer 66), erweist sich als grundlegend falsch. Hier bestätigt sich die Vermutung, dass beim Rat ein mechanistisches Verständnis der Gesamtwirtschaft vorherrscht, das für den Staat nur eine Nebenrolle beim kurzfristigen Lindern der ärgsten Nöte vorsieht, ansonsten aber die Regie bei den Privaten sieht. Von der Idee, dass sich der Staat als einziger nicht-einzelwirtschaftlicher Akteur mit dem größtmöglichen Gewicht gegen das Parallelverhalten aller übrigen Wirtschaftsakteure stemmen muss, und von einer klaren Vorstellung, wie der Staat das bewerkstelligen kann, sind die Sachverständigen meilenweit entfernt.
Jeder kann sich irren. Hauptsache man lernt aus seinen Fehlern. Doch das ist der wunde Punkt beim SVR, den ich hier näher beleuchten will.
Der Vorsitzende des SVR könnte die Fehleinschätzung mit dem Satz „Wir haben uns grundlegend geirrt“ kommentieren, weil das der Glaubwürdigkeit der Experten mehr auf die Beine helfen würde als das Sich-Rauswinden mit Wortklaubereien. (Der Berliner Virologe Christian Drosten beispielsweise ist mit seinem NDR-Podcast nach Aussagen vieler Kommentatoren gerade deshalb so populär und glaubwürdig geworden, weil er bereit ist, eigene Irrtümer offen zuzugeben.) Lars Feld könnte sagen, in der Realität spiele sich derzeit offenbar ein Wirtschaftsverlauf ab, der bereits kurzfristig einen wesentlich tieferen Einbruch als vom SVR erwartet anzeige. Das werde auf eine erheblich schlechtere Entwicklung hinauslaufen, wenn die Politik nicht so und so dagegenhalte. Er könnte auch sagen, dass er vorerst lieber keine Prognosen mehr wage.
Stattdessen gibt der Ökonom in dem FAZ-Interview vom Mai Allgemeinplätze zum Besten: „Wenn sich die Unsicherheit der Konsumenten und Investoren legt, werden sie wieder konsumieren und investieren. Die Konsumwünsche sind nicht geringer als vor der Krise, es ist nur fraglich, ob sie finanzierbar sind.“ Da die Finanzierbarkeit von Konsumwünschen auch in Nicht-Krisenzeiten den privaten Verbrauch bestimmt, liefert der zweite Satz keine Erkenntnis in Hinblick auf die Krise. Der erste Satz hätte das Potenzial, auf die richtige Spur zu führen, worum es bei der Krisenbekämpfung durch den Staat gehen muss, nämlich um die Beseitigung von Unsicherheit, mit anderen Worten die Stabilisierung von Erwartungen der Privaten. Aber statt das konkreter auszuführen, kritisiert der Sachverständige, gefragt nach seiner Einschätzung zu Konjunkturprogrammen, die Politik:
„Ich fürchte, dass wir ein Sammelsurium branchenspezifischer Maßnahmen bekommen.“
Verantwortungslose Berater und schlecht beratene Verantwortliche
Das ist stark. Der unvoreingenommene Zeitungsleser fragt sich an dieser Stelle des Interviews, ob nicht vielleicht die Fehlprognose des SVR selbst wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Politiker den Wirtschaftseinbruch anfangs komplett unterschätzt haben. (Heiner Flassbeck und ich hatten schon am 31.3.2020 in unserem Beitrag Alte Dogmen blockieren wirksame Lösung auf dieses Problem hingewiesen.) Dass sie sich nicht auf sehr umfassende, einfache und rasch umsetzbare Maßnahmen besonnen haben – Maßnahmen, die eins zu eins die Erwartungen der von den Shutdown-Folgen negativ Betroffenen hätten stabilisieren sollen; Maßnahmen, die so gestaltet hätten sein müssen, dass sich alle einigermaßen fair und gleich behandelt fühlen könnten; Maßnahmen, deren Umfang und Dauer nicht von ihrem fiskalischen Volumen abhängen sollten, sondern von der Entwicklung der Pandemie. Wenn die schlecht beratenen Politiker jetzt der Entwicklung hinterherlaufen und wie die Flickschuster heute ein Loch hier und morgen ein anderes Loch dort auszubessern versuchen, kommt genau das Sammelsurium an Hilfsmaßnahmen heraus, vor dem Lars Feld warnt.
Der Ökonom rät:
„Ich hoffe auf allgemeine Maßnahmen, wie eine deutliche Erleichterung des Verlustrücktrags für Unternehmen oder staatliche Investitionen in Infrastruktur, insbesondere für die Digitalisierung und den Klimaschutz.“
Eine Woche nach dem Interview meldet sich dann der gesamte SVR einmütig mit einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „So kann sich die Wirtschaft erholen“ mit genau diesen bahnbrechenden Vorschlägen zu Wort. Zwei Drittel des Textes widmen sich dem Maßnahmenpaket, das aus der steuerlichen Verlustverrechnung, einer Energiepreisreform und der Förderung öffentlicher und privater Investitionen besteht.
Alle drei „Hilfs“-Gebiete lassen sich kritisch hinterfragen: Steuererleichterungen durch Verlustrücktrag und -vortrag liefern etwas Liquidität, lösen aber nicht das Nachfrageproblem, vor dem viele Unternehmen und Soloselbständige stehen. Die angedachte Strompreissenkung könnte ökologisch fragwürdige Folgen zeitigen, da der Faktor Energie, mit dem wir aus Klimaschutzgründen sparsam umgehen sollten, verbilligt wird. Und wie die Förderung privater und öffentlicher Investitionen zu weniger „Sammelsurium branchenspezifischer Maßnahmen“ führen soll, bleibt Lars Felds Geheimnis.
Viel erschreckender als diese kaum übertünchte Ratlosigkeit der Sachverständigen ist an dem Zeitungsbeitrag aber die analytische Schwäche im ersten Drittel, die zeigt, dass man nicht willens oder in der Lage ist, aus der Fehlprognose zu lernen. Das hatte sich bereits in dem Gastbeitrag des SVR Eine Exit-Strategie für Deutschland vom 11. April in der FAZ angedeutet, in dem zwar auf die mangelnde Nachfrage „aufgrund von Einkommenseinbußen und der Ungewissheit über die weitere Entwicklung“ hingewiesen wurde, es zu deren Abbau aber nur lapidar hieß: „Die Vorgaben [Regeln zur Pandemiebekämpfung; Anm. d. Verf.] bieten den Unternehmen und Haushalten Orientierung und können Unsicherheiten abbauen, die derzeit wirtschaftliche Aktivität hemmen.“
Dass der Staat Unsicherheiten, die die Wirtschaftsaktivitäten hemmen, nicht einfach dadurch hinreichend beseitigen kann, dass er klare Pandemiebekämpfungsregeln aufstellt, konnte man schon im April wissen. Der SVR war sich darüber offenbar nicht im Klaren. Er ist nicht in der Lage, die verantwortlichen Politiker so vorausschauend zu beraten, dass sie der sich verselbständigenden ökonomischen Entwicklung Herr werden, so dass die Wirtschaft nicht unversehens von einem schlechten Szenario ins nächste noch schlechtere schliddert.
Am 22. Mai ist der SVR in seinem SZ-Beitrag zwar einen kleinen Schritt weiter, wenn er erklärt:
„… die gesamtwirtschaftliche Nachfrage [wird] … durch Einkommensausfälle, eine erhöhte Unsicherheit und teils fortbestehende Einschränkungen belastet bleiben. … Um einer lang anhaltenden Rezession entgegenzuwirken und die konjunkturelle Erholung zu unterstützen, sind … weitere fiskalpolitische Maßnahmen sinnvoll.“
Aber in welchem Umfang muss die Fiskalpolitik konkret tätig werden, um dem Wegbrechen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausreichend entgegenzutreten, und wie soll sie ausgestaltet werden, damit sie kurzfristig wirkt?
Der SVR schleicht um die Finanzierungsfrage wie die Katze um den heißen Brei
Im Sondergutachten vom März hatte warnend gestanden: „[Es] ist zu berücksichtigen, dass fiskalische Ressourcen nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, und deshalb die Konzentration auf zum entsprechenden Zeitpunkt effektive Maßnahmen von großer Bedeutung ist“ (Ziffer 9). Was ist angesichts der neuen Erkenntnisse über die Härte des konjunkturellen Einbruchs jetzt „effektiv“?
In dem besagten SZ-Beitrag vom 22. Mai heißt es dazu:
„Zur Stabilisierung der Erwartungen gehört nicht zuletzt der maßvolle Umgang des Staates mit seinen finanziellen Ressourcen, auch wenn der Verschuldungsspielraum beachtlich ist.“
Was hat man sich unter einem „maßvollen Umgang des Staates mit seinen finanziellen Ressourcen“ vorzustellen? 100 Milliarden, 500 Milliarden, eine Billion Euro? Zuschüsse oder Kreditgarantien? Und wieviel „zusätzliche Mittel des Bundes für gezielte Investitionen der Kommunen“ sollen es sein? Was ist hier das richtige Maß? Ganz eindeutig die wirtschaftliche Stabilisierung selbst, keine feste numerische Obergrenze.
Aber das kann und will der SVR wohl nicht sagen. Denn dann wäre es an der Zeit, sich eindeutig zu der Frage zu positionieren, ob in der gegenwärtigen Krise im Zweifel eine Schuldenfinanzierung des Staates durch die Zentralbank möglich, sinnvoll und sogar notwendig ist. Dann müsste er erklären, was das in Hinblick auf die Inflation heißt und ob derlei Schulden mit Blick auf die Regelungen der Schuldenbremse im Grundgesetz eines Tages zurückgezahlt werden müssen und können oder ob die Schuldenbremse abgeschafft gehört.
Die Wettbewerbsfähigkeit darf nicht fehlen, wohl aber Europa
Am schwierigsten aber wäre dann zu erklären, was das alles für Europa und vor allem die EWU-Partner hieße. Das ist ein so heißes Eisen, dass der SVR nicht einmal ansatzweise den Versuch unternimmt, dieses zentrale Thema in dem besagten Beitrag auch nur zu streifen. Ob es da mit der von der SZ betonten Einigkeit unter den Sachverständigen aus wäre, weshalb man lieber an der Oberfläche bleibt, oder ob alle Mitglieder des SVR ohnehin nicht gewillt sind, über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen? Eine kontroverse Diskussion, wie sie an der Tagesordnung war, als z.B. Peter Bofinger noch Ratsmitglied war, wäre jedenfalls für die verantwortlichen Politiker informativer als dieses einvernehmliche Schweigen.
Nun aber kommen wir zum Tiefpunkt des Beitrags des SVR. An drei Stellen im Text ist vom Strukturwandel bzw. der Wettbewerbsfähigkeit die Rede. Der SVR empfiehlt eingangs, dass die Maßnahmen „an den richtigen Stellen Anreize setzen, um gestärkt aus der Krise zu kommen. Es gilt deshalb, nicht allein die Nachfrage zu stärken, sondern zugleich den Strukturwandel sinnvoll zu unterstützen.“ Bei der Erläuterung der Investitionsförderung heißt es:
„In Verbindung mit einer besseren digitalen Ausstattung der Unternehmen und Behörden kann somit der Strukturwandel befördert und die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden.“
Und dieses Credo wird im letzten Satz des Beitrags nochmals unterstrichen, indem es explizit für das ganze Land ausgesprochen wird:
„Gleichzeitig [mit der Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung] können … [mit einem solchen Maßnahmenpaket] die richtigen Anreize für eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der deutschen Volkswirtschaft gesetzt werden.“
Armes Europa, arme EWU! Die Experten in deinem größten Mitgliedsland, die die Wirtschaftspolitiker beraten, können oder wollen noch immer nicht zwischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit unterscheiden. Auch nicht in dieser schweren weltweiten Krise. „Gestärkt“ bedeutet genau wie „wettbewerbsfähig“ immer „besser als die Konkurrenz“, nicht einfach nur „produktiver als bislang“. Und da neoliberale Ökonomen Staaten wie Unternehmen betrachten, die miteinander im Wettbewerb stehen, geht es immer um das Wegbeißen anderer Volkswirtschaften an den Weltmärkten unter Freihandelsbedingungen durch überlegene Wettbewerbsfähigkeit des gesamten eigenen Landes.
Ob sich der SVR darüber im Klaren ist, was für eine Kampfansage in diesen Sätzen liegt? Deutschland will die relative Überlegenheit seiner Volkswirtschaft im internationalen Vergleich – denn darum geht es bei der Wettbewerbsfähigkeit eines ganzen Landes – behalten oder gar noch ausbauen im Zuge der Krisenüberwindung. Klar, dass es dann keine wirksamen und ausreichenden Hilfen für „konkurrierende“ Länder geben darf, vor allem wenn sie die gleiche Währung haben. Das würde ja die deutsche Strategie, „gestärkt“ aus der Krise hervorzugehen, torpedieren bzw. verteuern. Das kann man sich keinesfalls leisten, weil man mit den eigenen finanziellen Ressourcen ja „maßvoll“ umgehen muss.
Neoliberale Ökonomen verstehen nicht, dass Staaten – anders als Unternehmen – nicht einfach „vom Markt“ verschwinden können, weil sie sich nicht in Luft auflösen, nicht aufgekauft werden können (und sollen) mit all ihren Bürgern, die einfach nur auf ihre Weise leben wollen. Wenn in einem Land weniger produktiv gewirtschaftet wird als in einem anderen, können beide trotz unterschiedlichem Einkommensniveau Handel miteinander treiben. Denn dafür kommt es nicht auf die realen Produktivitätsdifferenzen zwischen Handelspartnern an, sondern nur auf das – unter Berücksichtigung des Wechselkurses – gleiche durchschnittliche Preisniveau. Aber darüber schreibt der SVR lieber nicht, weil dann das deutsche Lohndumping zur Sprache käme. Und das ist tabu, wie sich z.B. an Lars Felds aktuellem Vorschlag ablesen lässt, den Mindestlohn wegen der Corona-Krise nicht regulär anzuheben – die nächste Drohung nach innen wie außen mit deflationären Folgen.
Merkels und Macrons 500-Milliarden-Euro-Plan ist der hilflose Versuch, die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen, in dem der SVR entweder selbst blind herumtappt oder die Politiker bewusst an der Nase herumführt. Im Sondergutachten vom März 2020 hatte der SVR geschrieben:
„Gleichzeitig könnten aus der Krise neue Impulse für die internationale Zusammenarbeit und die Weiterentwicklung der EU entstehen.“ (Ziffer 6 ).
Das klingt spätestens jetzt geradezu sarkastisch.