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„Overkill an einseitiger Corona-Berichterstattung“

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Eve Tsakiridou hat Biologie und Philosophie studiert und im Bereich Hirnforschung promoviert. Das journalistische Handwerkzeug hat sie bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gelernt. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Technologie und Wissenschaft. Hier interessiert sie vor allem, welche Auswirkungen technologische Fortschritte auf Mensch und Gesellschaft haben. Mitte März verdrängte die Corona-Pandemie alle anderen Themen aus der Berichterstattung. Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl kritisiert, die Menschen seien in Angst und Panik versetzt worden. Die Analysen und Forderungen der zu Medienstars aufgebauten Virologen geben die Medien ans Publikum weiter, und sie transportieren die Entscheidungen der Regierung. Im Interview spricht

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Eve Tsakiridou hat Biologie und Philosophie studiert und im Bereich Hirnforschung promoviert. Das journalistische Handwerkzeug hat sie bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gelernt. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Technologie und Wissenschaft. Hier interessiert sie vor allem, welche Auswirkungen technologische Fortschritte auf Mensch und Gesellschaft haben.

Mitte März verdrängte die Corona-Pandemie alle anderen Themen aus der Berichterstattung. Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl kritisiert, die Menschen seien in Angst und Panik versetzt worden.

Die Analysen und Forderungen der zu Medienstars aufgebauten Virologen geben die Medien ans Publikum weiter, und sie transportieren die Entscheidungen der Regierung. Im Interview spricht der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl über die Defizite der Berichterstattung und fehlende Kompetenzen in den Redaktionen vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Medien.

Prof. Stephan Russ-Mohl ist emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz) sowie Gründer des European Journalism Observatory. Er ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule (München) und studierte von 1972 bis 1980 Sozial- und Verwaltungswissenschaften (in München, Konstanz und Princeton/USA). Von 1985 bis 2001 war er Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der FU Berlin. Zu seinen Buchpublikationen gehört unter anderem: „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet“, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2017.

Prof. Russ-Mohl, wurden und werden wir in dieser Krise tatsächlich angemessen informiert?

Es kommt darauf an, welche Berichterstattungsphase wir unter die Lupe nehmen: Nicht nur die Regierungen, auch die Medien haben Corona lange Zeit verschlafen. Dann kam eine Phase, in der sie das Thema entdeckt und nach allen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie „ausgeschlachtet“ haben: Es wurde nach meinem Eindruck, der allerdings durch wissenschaftliche Inhaltsanalysen zu untermauern wäre, zumindest in den TV-Nachrichten, geradezu tagtäglich nur noch über Corona berichtet, mit Toten- und Infiziertenzahlen aus aller Welt, Leichentransporten in Militärkolonnen aus Bergamo und Leichenkühlhäusern aus New York. Alles wenig kontextualisiert, so dass wir alle in Angst und Panik versetzt wurden und auch Handlungsdruck auf die Regierungen entstand. Wobei eigentlich nur Virologen und Epidemiologen zu Wort kamen, alles andere wurde zunächst ausgeblendet.

Einige Ihrer Kollegen sprechen von Schnappatmungs-Journalismus, Zuspitzung und Dramatisierung. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Defizite der Corona-Berichterstattung?

Die meisten Redaktionen sind mit Politik- und Sportjournalisten bestens ausgestattet. Wissenschafts- und Medienjournalisten wurden dagegen vielfach wegrationalisiert, so dass in den Redaktionen Experten fehlen, die Epidemiologen und Virologen auf Augenhöhe Fragen stellen könnten, aber auch Medienexperten, die kritisch begleiten würden, was ihre Kolleginnen und Kollegen journalistisch so treiben. In Deutschland tonangebend waren auf diese Weise Christian Drosten, die Experten des Robert-Koch-Instituts (RKI), einer regierungsnahen Forschungsinstitution, und die PR-Experten der Bundes- und Landesregierungen.

Die Exekutive stellt politische Entscheidungen und Maßnahmen oft als „alternativlos“ dar. Medien übernehmen kritiklos diese Darstellung. Was müssten die Journalisten deutlich machen?

Einerseits, dass es in der Wissenschaft meist unterschiedliche Positionen gibt. Andererseits, dass in der Demokratie so gut wie gar nichts „alternativlos“ ist. Gründlich zu recherchieren gewesen wäre nicht, wo es noch mehr Tote gab als bei uns, sondern welche Länder mit welchen Maßnahmen möglicherweise besser als wir klarkommen – sowohl was die Corona-Prävention anbelangt als auch, was unnötige Kollateralschäden des Shutdowns betrifft, die überall dort auftraten, wo Behörden „überregulierten“.

Medienschaffende sollten sich ein Bild möglichst mit eigenen Augen machen. Vom Homeoffice aus ist das schlecht möglich.

Das stimmt. Der „rasende Reporter“ hatte sozusagen Sendepause. Hinzuzufügen ist andererseits, dass viele Journalisten und Journalistinnen unter schwierigsten Arbeits- und Recherchebedingungen Bewundernswertes geleistet haben. Das möchte ich mit meiner Kritik nicht in Abrede stellen.

Ist es nicht natürlich, dass zu Beginn einer Krise der Expertenkreis klein ist? Die Situation ist unklar, es gilt rasch zu informieren.

Ganz so klein, wie uns vor allem die TV-Sender glauben machen wollten, war er nie. Es ist ein seit Jahren bekanntes Problem der Medien, dass sie immer dieselben Wissenschaftler interviewen – und dies sehr oft jenseits der Kompetenzgrenzen der Forscher.

Der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren, meinte, dass Medien und Journalismus nicht Teil eines Exekutiv-Experten-Systems sein dürften. Könnte man das als impliziten Vorwurf übersetzen: Wo bleibt die Distanz?

Jarren hat recht! Journalismus sollte eher als „vierte Gewalt“ agieren, die vor allem die Exekutive, aber auch die Legislative und die Justiz aufmerksam begleitet. Wobei in der Schweiz noch heftiger „gesündigt“ wurde als bei uns in Deutschland: Im Tessin wurden Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks regelrecht damit beauftragt, für die Kantonsregierung PR-Aufgaben zu übernehmen. Bei uns in Deutschland haben ARD und ZDF „nur“ regierungslammfromm berichtet, jedenfalls in der Initialphase des Shutdowns.

Es gibt auch positive Einschätzungen zu den Leistungen der Öffentlich-Rechtlichen. Zum Beispiel von Volker Lilienthal, Professor für Journalistik, Universität Hamburg, der meint, dass diese zuerst das Informationsbedürfnis der Bevölkerung stillen müssten.

Erfreulicherweise sind Medienforscher nicht immer alle derselben Meinung. Ich würde in diesem Fall hinzufügen, dass die Medien einen erheblichen Teil des zu stillenden Informationsbedürfnisses erst durch ihren Overkill an einseitiger Corona-Berichterstattung erzeugt haben. Übrigens eine Dynamik, die Medienforscher wie Hans Mathias Kepplinger und Roland Schatz schon vielfach beschrieben haben, etwa am Beispiel von BSE oder Sars.

Auffällig an den Aussagen Ihrer kritischen Kollegen ist, dass sie den Medien Systemversagen vorwerfen. Worin genau besteht das Versagen?

Aus meiner Sicht in der monothematischen Fokussierung auf Corona – und in der mangelnden Einordnung auch von Ansteckungsrisiken und Risikogruppen. Wenn Redaktionen ihren Informationsauftrag ernst genommen hätten, hätten sie mehr Naturwissenschaftler in ihren eigenen Reihen. Sie hätten früher über das Virus berichtet, viel öfter darauf hingewiesen, dass Zahlen und Daten aus China nicht frei verfügbar, sondern höchstwahrscheinlich zensiert und manipuliert sind.

„Overkill an einseitiger Corona-Berichterstattung“

In der Medienwissenschaft existieren verschiedene Modelle, woran sich qualitativer Journalismus zu orientieren habe. Hier zu sehen ist das „Magische Vieleck der Medienqualität“ nach Stephan Russ-Mohl. Wichtig sind demnach Aktualität, Komplexitätsreduktion, Objektivität, Transparenz/Reflexivität und Originalität.

Sie haben bereits auf Ihren Mainzer Kollegen Emeritus Hans-Mathias Kepplinger verwiesen. Für ihn ist es absolut unverständlich, weshalb das RKI nicht die Zahl der täglich getesteten Personen veröffentlicht. Damit jeder nachrechnen kann, ob der Prozentsatz „positiv“ kleiner oder größer wird. Und warum das RKI nicht erklärt, weshalb es das nicht macht. Und dass kein Journalist darauf besteht, dass das gemacht oder gerechtfertigt wird. Welche Maßstäbe gelten für Journalisten aus den Wissenschaftsressorts?

Die Kolleginnen und Kollegen in den Wissenschaftsressorts sollten eher als andere Journalisten befähigt sein, wenigstens den Forschern die „richtigen“ Fragen zu stellen. Und damit auch der PR von Forschungseinrichtungen nicht einfach auf den Leim gehen, die oftmals auch nicht frei von institutionellen Eigeninteressen agieren.

Dazu gehört wohl auch ein gewisses Maß an Selbstreflektion der Medienschaffenden. Kommt das in der täglichen Routine zu kurz?

Eindeutig ja. Auch, weil das kaum noch in Medienressorts institutionalisiert ist, die über Medien und Journalismus berichten. Wir haben Hundertschaften von Sport- und Politikjournalisten, aber kaum Wissenschafts- und Medienjournalisten, obwohl die Wissenschaften ebenso wie Medien und Journalismus „systemrelevant“ für hochentwickelte Gesellschaften und Demokratien sind.

Seit der Corona-Pandemie wird die Bedeutung von Medien besonders hervorgehoben. Sie seien systemrelevant für die Demokratie. Ist das eine Art von Selbstvergewisserung der Medienschaffenden vor dem drohenden Bedeutungsverlust – ausgelöst durch die sozialen Netzwerke?

Ich denke, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft und im Kulturbetrieb, aber auch in der Wissenschaft sind wir auf gut funktionierenden Journalismus angewiesen. Allerdings: Der Journalismus hat es auch jahrzehntelang versäumt, genau das hinreichend zu kommunizieren und darauf aufmerksam zu machen, dass guter Journalismus nicht umsonst zu haben ist. Wir sollten also vom Journalismus nicht nur als „meritorischem“ Gut sprechen, sondern uns auch vermehrt damit auseinandersetzen, welche Schäden „demeritorischer“ Journalismus anrichtet

Fassen wir zusammen: zu wenig Recherche, Analyse und Einordnung, dafür um so mehr Verlautbarungsjournalismus. Liegt das auch an den unzähligen Sparrunden von Verlagen und Medienhäusern, die Redaktionen zusammenlegen, Etats kürzen und die Arbeit immer mehr verdichten?

Ja, aber wir sollten es uns nicht zu einfach machen, dafür nur Verleger und Medienmanager verantwortlich zu machen. Letztlich sind wir Mediennutzer es, die „alles gratis“ haben, also keinen angemessenen Preis für guten Journalismus bezahlen wollen.

Die nächste Krise kommt bestimmt. Welche Empfehlungen würden Sie Medienverantwortlichen mit auf den Weg für einen hochwertigen, angemessenen Journalismus geben?

Sie sollten die Wissenschafts- und Medienressorts stärken. Weg mit der Sportberichterstattung aus „Tagesschau“ und „heute“. Und, speziell ein Rat an die Verantwortlichen der Öffentlich-Rechtlichen: Konzipiert endlich europäische Programme, die dem stereotypen Dauerbashing der Deutschen, zum Beispiel in Italien und Griechenland und dem der Italiener und Griechen in den deutschen Medien, ein Ende bereiten, weil sie in allen europäischen Sprachen ausgestrahlt werden. Ich stelle mir gemeinsame Nachrichtensendungen vor, die in den Hauptprogrammen zur besten Sendezeit in allen Sprachen ausgestrahlt werden. Oder europäische Talkshows, die simultan übersetzt werden.

Was sind ethische und qualitative Maßstäbe für Journalismus in Zeiten von Krisen?

Dieselben, die seit eh und je für guten Journalismus gelten. Hier möchte ich auf den Pressekodex des Deutsche Presserats verweisen, der ethische Standards für die journalistische Arbeit in 16 Ziffern festlegt. Da wäre beispielsweise Ziffer 1: „Wahrhaftigkeit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ Oder auf die Ziffer 14, die sich auf Medizin-Berichterstattung bezieht: „Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“

Gibt es von Ihrer Seite auch Empfehlungen an uns, die Nachrichtenkonsumenten?

Ja. Bitte informieren Sie sich aus vielfältigen Quellen. Pflegen Sie in den sozialen Netzwerken Kontakte zu Experten, an deren Ansichten man sich reibt. Teilen Sie nicht vorschnell Inhalte, die die eigenen Vorurteile bestätigen. Ich möchte auf den Autor Rolf Dobelli verweisen, der in einem seiner Bücher auf unterhaltsame Weise klar macht, wie viele Denkfehler[1] auch intelligente Menschen machen. Damit meint Dobelli „systematische Abweichungen zur Realität, zum optimalen, logischen, vernünftigen Denken und Verhalten“. Zum Beispiel komme es viel häufiger vor, dass wir unser Wissen überschätzen, als dass wir es unterschätzen. Dobelli, weist auch darauf hin, dass viele Entscheidungen, ob Job, Lebenspartner, Investment, unbewusst fallen. Anschließend konstruieren wir eine Begründung, die uns den Eindruck gibt, bewusst entschieden zu haben. Das deckt sich mit der Einschätzung meines Forscherkollegen Klaus Schönbach, der gerne darauf verweist, wir würden nicht rational entscheiden, sondern allenfalls unsere Entscheidungen rationalisieren. Denkfehler können wir alle machen. Vor diesen sind auch Virologen, Politiker oder Journalisten nicht gefeit.


[1] Dobelli, Rolf: Die Kunst des klaren Denkens, München: Piper 2020. S.2 und S. 218.

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